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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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fröhlicher Ausgelassenheit über die grauen Dünen des Amazonasbeckens dahinschweben kann; der Fackelzug am Abend, als Abgesandte der anderen Alten Familien bei Dämmerung eintreffen, deren bunt eingepackte Geschenke unter dem Mond und den Zehntausend Lichtern funkeln … Ich stehe nach neun Stunden Flashback mit einem Lächeln auf den Lippen auf. Doch der zweite Trip kostet mich fast das Leben.
    Ich bin vier und weine, ich suche meine Mutter in einer endlosen Abfolge von Zimmern, die nach Staub und alten Möbeln riechen. Androidendiener wollen mich trösten, aber ich schüttle ihre Hände ab, laufe durch von Schatten und dem Ruß zu vieler Generationen besudelte Flure. Ich übertrete die erste Vorschrift, die ich je gelernt habe, und reiße die Tür zu Mutters Nähzimmer auf, ihrem Allerheiligsten, in das sie sich jeden Nachmittag für drei Stunden zurückzieht und aus dem sie mit sanftem Lächeln herauskommt, während der Saum ihres hellen Kleides über den Teppich flüstert wie das Echo des Seufzens eines Geistes.
    Mutter sitzt dort in den Schatten. Ich bin vier und habe mich am Finger verletzt und laufe zu ihr und werfe mich in ihre Arme.
    Sie reagiert nicht. Einer ihrer eleganten Arme bleibt auf der Armlehne des Sessels liegen, der andere schlaff auf dem Kissen.
    Ich weiche zurück, weil mich ihre kalte, plastikähnliche Haut erschreckt. Ich ziehe die schweren Brokatvorhänge auf, ohne mich von ihrem Schoß zu erheben.
    Mutters Augen sind weiß und in den Schädel zurückgerollt. Ihre Lippen sind ein wenig offen. Speichel macht ihre Mundwinkel feucht und glänzt auf ihrem perfekten Kinn. In den goldenen Locken ihres Haars – das im Stil der Grandes Dames
hochgesteckt ist, der ihr so gut gefällt – sehe ich den kalten Stahlglanz des Stimkabels und den stumpferen Schimmer des Schädelsteckers, in den sie es gesteckt hat. Der Knochen auf beiden Seiten ist sehr weiß. Auf dem Tisch neben ihrer linken Hand liegt die leere Flashbackspritze.
    Die Diener kommen und ziehen mich weg. Mutter blinzelt nicht einmal. Ich werde schreiend aus dem Zimmer gezogen.
    Ich wache schreiend auf.
     
    Vielleicht war es meine Weigerung, Flashback noch einmal zu nehmen, die Helendas Abreise beschleunigt hat, aber das bezweifle ich. Ich war ein Spielzeug für sie – ein Primitiver, der sie mit seiner Unschuld in einem Leben amüsierte, das sie seit vielen Jahrzehnten als gegeben nahm. Wie auch immer, aufgrund meiner Weigerung, Flashback zu nehmen, verbrachte ich viele Tage ohne sie; die Zeit, die im Replay verbracht wird, ist Echtzeit, und viele Flashbackfixer haben mehr Tage ihres Lebens unter der Droge als bei Bewusstsein verbracht.
    Anfangs unterhielt ich mich mit den Implantaten und Technospielzeugen, die mir als Mitglied einer Familie der Alten Erde versagt geblieben waren. Die Datensphäre war in diesem ersten Jahr ein Quell des Entzückens – ich rief fast ständig Informationen ab und lebte in einer Ekstase voller Interfaces. Ich war so süchtig nach Daten wie der Karibuschwarm nach Stims und Drogen. Ich konnte mir vorstellen, wie sich Don Balthasar in seinem geschmolzenen Grab umdrehte, als ich Langzeiterinnerung zugunsten der vergänglichen Befriedigung von Transplantallwissenheit aufgab. Erst später spürte ich den Verlust – Fitzgeralds Odyssee , Wus Letzter Marsch und Dutzende weitere Epen, die meinen Schlag überlebt hatten, wurden nun verweht wie Wolkenbruchstücke bei Sturm. Viel später, als ich die Implantate hatte entfernen lassen, lernte ich sie mühsam wieder.

    Zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben wurde ich politisch. Ich verbrachte Tage und Nächte damit, den Senat über Farcasterkabel zu verfolgen, oder war ins All-Wesen eingeklinkt. Jemand hat einmal geschätzt, dass das All-Wesen sich tagtäglich mit hundert aktiven Angelegenheiten der Hegemonielegislative beschäftigt, und in den Tagen, die ich ins Sensorium eingebettet verbrachte, habe ich mir keine davon entgehen lassen. Meine Stimme und mein Name waren in den Diskussionskanälen bestens bekannt. Keine Angelegenheit war zu geringfügig, kein Thema zu simpel oder zu komplex für meinen Input. Die schlichte Tatsache, dass ich alle paar Minuten über etwas abstimmte, gab mir das falsche Gefühl, etwas erreicht zu haben. Ich gab meine politische Besessenheit erst auf, als mir klar wurde, dass regelmäßiger Zugang zum All-Wesen bedeutete, entweder ständig zu Hause zu bleiben oder zu einem wandelnden Zombie zu werden. Jemand, der konstant über

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