Die Hyperion-Gesänge
seine Implantate eingeklinkt ist, gibt in der Öffentlichkeit ein jämmerliches Bild ab, und ich brauchte Helendas Hinweis nicht, um einzusehen, dass ich mich, wenn ich zu Hause blieb, in einen Schwamm des All-Wesens verwandeln würde wie so viele Millionen andere Abhängige im Netz. Daher gab ich die Politik auf. Aber bis dahin hatte ich eine neue Leidenschaft gefunden: Religion.
Ich schloss mich Religionen an. Verdammt, ich half mit, Religionen zu gründen. Die Kirche der Zen-Gnostiker expandierte exponentiell, und ich wurde ein wahrer Gläubiger, trat in HTV-Talkshows auf und suchte meine Stätten der Macht mit der Hingabe eines Prä-Hegira-Moslems, der nach Mekka pilgert. Außerdem liebte ich das Farcasten. Die Tantiemen für Die sterbende Erde beliefen sich auf fast hundert Millionen Mark, und Helenda hatte sie gut angelegt, aber jemand hat einmal ausgerechnet, dass ein Farcasterhaus wie meines allein fünfzigtausend Mark täglich kostet, nur damit es im Netz bleibt,
und ich beschränkte mein Farcasten nicht auf die sechsunddreißig Welten meines Hauses. Transline Publishing hatte mir eine goldene Universalkarte verschafft, von der ich regen Gebrauch machte: Ich farcastete zu den entlegensten Winkeln des Netzes, verbrachte Wochen dort in Luxusunterkünften und mietete EMVs, um meine Stätten der Macht in den fernsten Gegenden von Hinterwelten zu finden.
Ich fand keine. Ich gab die Zen-Gnostik etwa zu der Zeit auf, als Helenda sich von mir scheiden ließ. Da stapelten sich die Rechnungen schon, und ich musste den größten Teil der Wertpapiere und langfristigen Anlagen verkaufen, die mir geblieben waren, nachdem Helenda ihren Anteil genommen hatte; ich war nicht nur verliebt und naiv gewesen, als ihre Anwälte den Ehevertrag aufgesetzt hatten – ich war regelrecht dumm.
Schließlich sah ich mich trotz drastischer Maßnahmen wie Verzicht auf das Farcasten und Entlassung sämtlicher Androidendiener einer finanziellen Katastrophe gegenüber.
Ich besuchte Tyrena Wingreen-Feif.
»Kein Mensch liest Gedichte«, sagte sie und blätterte den dünnen Stapel Gesänge durch, die ich in den vergangenen anderthalb Jahren geschrieben hatte.
»Was meinen Sie damit?«, sagte ich. »Die sterbende Erde waren Gedichte.«
»Die sterbende Erde war ein Schwindel«, sagte Tyrena. Ihre Nägel waren lang und grün und nach der neuesten Mandarinmode gekrümmt; sie umklammerten mein Manuskript wie die Klauen eines Chlorophyllungeheuers. »Es hat sich verkauft, weil das Massenunterbewusstsein dafür reif war.«
»Vielleicht ist das Massenunterbewusstsein auch dafür reif«, sagte ich. Ich wurde langsam wütend.
Tyrena lachte. Es war kein angenehmer Laut. »Martin, Martin, Martin«, sagte sie. »Das ist Dichtung. Sie schreiben über
Heaven’s Gate und den Karibuschwarm, aber was rüberkommt, sind Einsamkeit, Entwurzelung, Angst und ein zynischer Blick auf die Menschheit.«
»Und?«
»Niemand will auch noch etwas dafür bezahlen, die Ängste eines anderen Menschen zu lesen«, versicherte Tyrena lachend.
Ich wandte mich von ihrem Schreibtisch ab und ging zur anderen Seite des Büros. Ihr Büro beanspruchte den gesamten vierhundertfünfunddreißigsten Stock des Transline-Turms in der Sektion Babel von Tau Ceti Center. Es gab keine Fenster; der kreisförmige Raum war vom Boden bis zur Decke offen und von einem solarerzeugten Sperrfeld abgeschirmt, das keinerlei Flimmern zeigte. Es war, als stünde man zwischen zwei grauen Platten, die auf halbem Weg zwischen Himmel und Erde schwebten. Ich sah, wie scharlachrote Wolken zwischen den Türmen einen halben Kilometer tiefer dahinzogen, und dachte an Hybris. Tyrenas Büro hatte keine Türen, Treppen, Fahrstühle oder Falltüren: überhaupt keine Verbindung zu den anderen Stockwerken. Man betrat es durch einen Farcaster mit fünf Facetten, der im Raum schimmerte wie eine abstrakte Holoskulptur. Ich musste nicht nur an Hybris denken, sondern auch an Großbrände und Energieausfall. Ich sagte: »Wollen Sie damit sagen, dass Sie es nicht veröffentlichen werden?«
»Im Gegenteil«, sagte meine Lektorin lächelnd. »Sie haben Transline mehrere Milliarden Mark eingebracht, Martin. Wir werden es veröffentlichen. Ich sage nur, dass es niemand kaufen wird.«
»Sie irren sich!«, rief ich. »Nicht alle erkennen gute Dichtung, aber es gibt dennoch genügend Leute, die sie lesen, damit sie zum Bestseller wird.«
Tyrena lachte nicht noch einmal, verzog aber die grünen
Lippen zu einem
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