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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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immer seltener. Sie starb im Kindbett, kurz nachdem die grüne Flutwelle Mudflat City zerstört hatte. Ich schrieb weiter Gedichte.
    Wie kann es sein, fragt ihr euch wahrscheinlich, dass jemand wunderschöne Verse mit einem Vokabular von nur neun Worten der rechten Gehirnhälfte schreiben kann?

    Die Antwort ist, dass ich überhaupt keine Worte gebraucht habe. Dichtung dreht sich nur in zweiter Linie um Worte. In erster Linie dreht sie sich um die Wahrheit. Ich befasste mich mit dem Ding an sich, der Substanz hinter den Schatten, und wob gewaltige Konzepte, Vergleiche und Zusammenhänge, wie ein Ingenieur einen Wolkenkratzer erbaut – das Skelett aus Stahlbeton kommt lange vor Glas und Plastik und Chromaluminium.
    Und allmählich kehrten die Worte zurück. Das Gehirn kann sich erstaunlich gut erholen und neu gestalten. Was in der linken Hälfte verlorengegangen war, hatte anderswo ein Zuhause gefunden oder kehrte mit der Zeit in die beschädigten Regionen zurück, wie Pioniere in ein von Feuer versehrtes Land zurückkehren, das durch die Asche umso fruchtbarer gemacht wurde. Hatte mich bisher ein einfaches Wort wie »Salz« zum Stottern und Stöhnen gebracht, während mein Verstand in der Leere herumstocherte wie die Zunge im Loch eines gezogenen Zahns, fielen mir nun langsam wieder Worte und Phrasen ein wie die Namen vergessener Spielkameraden. Tagsüber schuftete ich auf den Schleimfeldern, aber nachts saß ich an meinem gesplitterten Holztisch und schrieb meine Gesänge im Licht einer zischenden Gheelampe. Mark Twain hat einmal in seiner hausbackenen Art gesagt: »Der Unterschied zwischen dem richtigen Wort und dem fast richtigen Wort ist wie der Unterschied zwischen einem Blitz und einem Glühwürmchen.« Das war drollig, aber unvollständig. In den langen Monaten, als ich meine Gesänge auf Heaven’s Gate begann, stellte ich fest, der Unterschied zwischen dem Suchen nach dem richtigen Wort und dem Akzeptieren des fast richtigen Wortes war wie der, von einem Blitz getroffen zu werden oder lediglich ein Blitzlicht zu sehen.
    So begannen meine Gesänge und wuchsen. Ich schrieb sie auf weiche Bögen wiederaufbereiteter Egelgrasfasern,
die sie tonnenweise als Toilettenpapier herstellten, kritzelte mit einem billigen Kugelschreiber, wie sie sie im Firmenkiosk verkauften. Als die Worte zurückkehrten und sich wie die verstreuten Teile eines dreidimensionalen Puzzles zusammenfügten, brauchte ich eine Form. Ich besann mich auf die Lehren Don Balthasars und versuchte mich an der gemessenen Noblesse von Miltons epischen Versen. Mit wachsendem Selbstvertrauen fügte ich die romantische Sinnlichkeit eines Byron, verbunden mit einem Keats’schen Zelebrieren der Sprache, hinzu. Das alles rührte ich um, würzte die Mischung mit einer Prise von Yeats’ brillantem Zynismus und einem Quentchen von Pounds obskurer Gelehrtenarroganz. Ich zerstückelte, häckselte und fügte Zutaten wie Eliots meisterliche Stimmungsbilder, Dylan Thomas’ Gefühl für Orte, Delmore Schwartzes Weltuntergangsstimmung, Steve Tems Anflüge von Horror, Salmud Brevys Flehen um Unschuld, Datons Liebe zum gewundenen Reimschema, Wus Verehrung des Körperlichen und Edmond Ki Fererras radikale Verspieltheit hinzu.
    Zuletzt warf ich diese Mischung wieder hinaus und schrieb die Gesänge in meinem ganz eigenen Stil.
     
    Wäre Unk, der Schlägertyp, nicht gewesen, wäre ich wahrscheinlich immer noch auf Heaven’s Gate und würde bei Tag Säurekanäle graben und nachts meine Gesänge schreiben.
    Ich hatte meinen freien Tag und trug meine Gesänge – die einzige Kopie meines Manuskripts – zur Firmenbibliothek in der Gemeindehalle, um zu recherchieren, als Unk und zwei seiner Handlanger aus einer Nebenstraße kamen und auf der Stelle das Schutzgeld für den nächsten Monat wollten. Wir hatten im Atmosphärischen Protektorat von Heaven’s Gate keine Universalkarten; wir bezahlten unsere Rechnungen mit Firmengeld oder Schmuggelmarken. Beides hatte ich nicht.
Unk wollte wissen, was ich in der Plastikumhängetasche hatte. Ich weigerte mich, ohne nachzudenken. Das war ein Fehler. Hätte ich Unk das Manuskript gezeigt, hätte er es wahrscheinlich in den Schlamm geworfen und mich ein bisschen verprügelt und Drohungen ausgestoßen. So aber erboste ihn meine Weigerung derart, dass er und seine beiden Neandertaler die Tasche aufrissen, das Manuskript in den Schlamm warfen und das Leben fast buchstäblich aus mir herausprügelten.
    Es begab sich aber auch

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