Die Hyperion-Gesänge
Schultern und ein weißes Nachthemd. Sie spricht hastig, um Tränen vorzubeugen. »Schiffsmann Merin Aspic, das mit deinem Freund tut mir leid – wirklich leid –,
aber du bist gegangen, ohne auch nur auf Wiedersehen zu sagen. Ich hatte große Pläne, wie du uns hättest helfen können … wie du und ich … und du hast nicht einmal auf Wiedersehen gesagt. Mir ist egal , was aus dir wird. Ich hoffe, du kehrst in die stinkenden, überfüllten Metropolen deiner Hegemonie zurück und verfaulst. Merin Aspic, ich möchte dich nie wiedersehen, nicht einmal, wenn sie mich dafür bezahlen würden. Auf Wiedersehen .«
Sie dreht mir den Rücken zu, bevor die Projektion verblasst. In der Gruft ist es jetzt dunkel, aber der Ton dauert noch für einen Moment an. Ein leises Kichern ist zu hören, und Siris Stimme – deren Alter ich nicht abschätzen kann – erklingt ein letztes Mal. »Adieu, Merin. Adieu.«
»Adieu«, sage ich und schalte den Diskey ab.
Die Menge weicht auseinander, als ich blinzelnd aus der Gruft komme. Mein schlechter Zeitplan hat die Dramatik des Ereignisses verdorben, und jetzt löst mein lächelndes Gesicht erbostes Flüstern aus. Lautsprecher tragen die Rhetorik der offiziellen Zeremonie der Hegemonie sogar bis auf unseren Hügel. »… Beginn einer neuen Zusammenarbeit«, dröhnt die volle Stimme des Botschafters.
Ich stelle das Kästchen auf das Gras und hole die Schwebematte heraus. Die Menge drängt gaffend nach vorne, als ich den Teppich auslege. Das Muster ist verblichen, aber die Flugfäden leuchten wie poliertes Kupfer. Ich setze mich in die Mitte der Matte und schiebe die schwere Kiste hinter mich.
»… und mehr werden folgen, bis Raum und Zeit kein Hindernis mehr sind.«
Die Menge weicht zurück, als ich auf das Flugmuster drücke und die Matte vier Meter in die Höhe steigt. Jetzt kann ich über das Dach der Gruft sehen. Die Inseln kehren zurück, um den Äquatorialarchipel zu bilden. Ich kann sie sehen, Hunderte,
die von sanften Winden aus dem hungrigen Süden herbefördert werden.
»… daher ist es mir eine große Freude, den Kreis zu schließen und Sie, die Kolonie Maui-Covenant, in der Gemeinschaft der Hegemonie der Menschheit zu begrüßen.«
Der dünne Strahl des zeremoniellen Kom-Lasers pulsiert zum Zenit. Beifall ertönt, die Kapelle fängt an zu spielen. Ich blinzle himmelwärts und sehe gerade noch, wie ein neuer Stern geboren wird. Ein Teil von mir wusste bis auf die Mikrosekunde, was gerade passiert ist.
Ein paar Mikrosekunden lang hat der Farcaster funktioniert. Ein paar Mikrosekunden lang waren Raum und Zeit kein Hindernis mehr gewesen. Dann hat der gewaltige Gezeitensog der künstlichen Singularität die Thermitladung gezündet, die ich an der äußeren Sperrsphäre angebracht hatte. Die winzige Explosion war nicht zu sehen gewesen, aber eine Sekunde später hat der expandierende Schwarzschild-Radius seine Hülle verschlungen, frisst sechsunddreißigtausend Tonnen zerbrechliches Dodekahedron und verleibt sich rasch noch mehrere tausend Kilometer Raum ein. Und das ist zu sehen – atemberaubend – als Mininova, die weiß am klaren blauen Himmel auflodert.
Die Kapelle hört auf zu spielen. Leute schreien und laufen in Deckung. Dazu besteht kein Grund. Röntgenstrahlen werden frei, als der Farcaster in sich zusammenstürzt, aber nicht so viel, dass sie durch die üppige Atmosphäre von Maui-Covenant hindurch Schaden anrichten könnten. Ein kurzer Plasmastreifen wird sichtbar, als die Los Angeles Distanz zwischen sich und das sehr rasch zusammenfallende Schwarze Loch bringt. Wind kommt auf, das Meer wogt stärker. Heute Nacht werden seltsame Gezeiten auftreten.
Ich möchte etwas Tiefschürfendes sagen, aber mir fällt nichts ein. Außerdem ist die Menge nicht in der Stimmung
zuzuhören. Ich rede mir ein, dass ich vereinzelte Jubelrufe zwischen den Schreien und dem Gebrüll hören kann.
Ich drücke das Flugmuster, woraufhin die Matte über die Klippe und den Hafen schwebt. Ein Thomasfalke, der auf den nachmittäglichen Gezeiten treibt, flattert panisch, als ich näherkomme.
»Lass sie nur kommen!«, rufe ich dem fliehenden Falken zu. »Lass sie nur kommen. Ich bin fünfunddreißig und nicht allein, und lass sie nur kommen, wenn sie es wagen!« Ich schüttle die Faust und lache. Der Wind weht mir das Haar zurück und kühlt den Schweiß auf meiner Brust und den Armen ab.
Solchermaßen abgekühlt, nehme ich das Sichtgerät und stelle den Kurs auf die
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