Die Hyperion-Gesänge
wenn man Schmerz erfahren hat. Siri bewegt die Hände, sie verschwinden außerhalb der Grenzen der Projektion. »Merin, Liebster, wie seltsam sind unsere Tage zusammen und voneinander getrennt gewesen. Wie wunderbar absurd der Mythos, der uns verbunden hat. Meine Tage waren nur Herzschläge für dich. Dafür habe ich dich gehasst. Du warst der Spiegel, der nicht lügt. Wenn du dein Gesicht am Anfang eines jeden Wiedersehens hättest sehen können! Du hättest wenigstens deine Betroffenheit verbergen können … Das wenigstens hättest du für mich tun können. Aber hinter deiner linkischen Naivität war immer … was? … etwas, Merin. Du hast etwas, das deine Unreife und deinen achtlosen Egoismus Lügen straft, die du so gut zur Schau stellst. Fürsorge vielleicht. Oder zumindest Respekt vor der Fürsorge. Merin, dieses Tagebuch
enthält Hunderte von Einträgen. Tausende, fürchte ich … Ich führe es, seit ich dreizehn bin. Wenn du das siehst, werden sie alle gelöscht sein, bis auf die nachfolgenden. Adieu, Geliebter. Adieu.«
Ich schalte das Komlog aus und sitze einen Augenblick stumm da. Die Menge ist durch die dicken Mauern der Gruft kaum zu hören. Ich hole Luft und drücke auf den Diskey.
Siri erscheint. Sie ist Ende vierzig. Ich erkenne auf der Stelle Ort und Zeit, wo sie diese Aufnahme gemacht hat. Ich erinnere mich an den Mantel, den sie trägt, den Aalsteinschmuck um ihren Hals, die Strähne, die unter dem Barett hervorquillt und ihr über die Wange fällt. Ich kann mich an alles an diesem Tag erinnern. Es war der letzte Tag unseres Dritten Wiedersehens, und wir waren mit Freunden auf den Anhöhen über Süd-Tern. Donel war zehn, und wir versuchten ihn zu überreden, mit uns auf dem verschneiten Hang Schlitten zu fahren. Er weinte. Siri wandte sich von uns ab, noch ehe der Gleiter richtig gelandet war. Als Magritte ausstieg, sahen wir Siris Gesicht an, dass etwas passiert war.
Dasselbe Gesicht sieht mich jetzt an. Sie streicht abwesend die störrische Strähne zurück. Ihre Augen sind rot, aber ihre Stimme ist beherrscht. »Merin, heute haben sie unseren Sohn getötet. Alón war einundzwanzig, und sie haben ihn getötet. Du warst heute so verwirrt, Merin. ›Wie konnte so ein Fehler nur passieren?‹, hast du immerzu wiederholt. Du hast unseren Sohn eigentlich gar nicht gekannt, aber ich sah deinem Gesicht den Schmerz des Verlustes an, als wir es erfuhren. Merin, es war kein Unfall. Wenn nichts überlebt, keine anderen Aufzeichnungen, wenn du nie verstehen wirst, warum ich zugelassen habe, dass ein sentimentaler Mythos mein Leben beherrscht, wisse dies: E s war kein Unfall, der Alón das Leben gekostet hat. Er war bei den Separatisten, als die Ratspolizei
eintraf. Selbst da hätte er noch entkommen können. Wir hatten gemeinsam ein Alibi vorbereitet. Die Polizei hätte seine Geschichte geglaubt. Aber er beschloss zu bleiben … Heute, Merin, hat dich beeindruckt, was ich zu der Menge gesagt habe – zu dem Mob, der die Botschaft stürmen wollte. Wisse, Schiffsmann, als ich gesagt habe: ›Jetzt ist es Zeit, eure Wut und euren Hass zu zeigen‹, da habe ich genau das gemeint. Nicht mehr und nicht weniger. Heute ist nicht die Zeit. Aber der Tag wird kommen. Er wird gewiss kommen. Das Covenant – das Abkommen – wurde in den letzten Tagen ernst genommen, Merin. Und es wird heute ernst genommen. Diejenigen, die es vergessen haben, werden überrascht sein, wenn der Tag kommt, aber er wird ganz sicher kommen.«
Das Bild weicht einem anderen, und in dem Sekundenbruchteil des Überlappens taucht das Gesicht der sechsundzwanzigjährigen Siri über dem der älteren Frau auf. »Merin, ich bin schwanger. Ich freue mich so sehr. Du bist jetzt für fünf Wochen fort, und ich vermisse dich so sehr. Du wirst zehn Jahre fort sein. Länger. Merin, warum hast du nicht daran gedacht, mich zu bitten, dich zu begleiten? Ich hätte nicht mitkommen können, aber ich hätte mich allein über die Bitte gefreut. Doch ich bin schwanger, Merin. Die Ärzte sagen, es wird ein Junge. Ich werde ihm von dir erzählen, Geliebter. Vielleicht werdet ihr beiden eines Tages im Archipel segeln und den Liedern des Meeresvolks lauschen wie wir beide in den vergangenen Wochen. Vielleicht kannst du sie bis dahin verstehen. Merin, du fehlst mir. Bitte komm bald zurück.«
Das holografische Bild flimmert und verändert sich. Das Gesicht des sechzehnjährigen Mädchens ist rot. Das lange Haar fällt ihr über die bloßen
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