Die Hyperion-Gesänge
führen. Sie sind zwar nicht so ausgetreten wie der Pfad, der zur Basilika selbst führt, aber gleichermaßen faszinierend. Gott allein weiß, welche Wunder noch da unten warten mögen.
Ich muss die Welt von diesem Fund wissen lassen!
Die Ironie, dass ausgerechnet ich derjenige bin, der diese Entdeckung gemacht hat, ist mir nicht entgangen. Wären Armaghast und meine Verbannung nicht gewesen, hätte die Entdeckung wahrscheinlich noch weitere Jahrhunderte warten müssen. Die Kirche hätte aussterben können, bevor ihr diese Offenbarung neues Leben einhauchen konnte.
Aber ich habe sie gefunden.
Und ich werde meine Botschaft hinausbekommen – auf welchem Weg auch immer.
TAG 107:
Ich bin ein Gefangener.
Heute Morgen habe ich an meiner üblichen Stelle gebadet, kurz bevor der Bach über den Klippenrand stürzt, als ich ein Geräusch hörte, mich umdrehte und den Bikura, den ich Del nenne, erblickte, der mich mit großen Augen ansah. Ich rief einen Gruß, aber der kleine Bikura drehte sich um und rannte weg. Das war verwirrend. Sie sind selten in Eile. Dann überlegte ich mir, dass ich zwar noch Hosen trug, aber zweifellos ihr Nacktheitstabu verletzte, als ich mich vor Del mit entblößtem Oberkörper zeigte.
Ich lächelte, schüttelte den Kopf, zog mich an und ging zum Dorf zurück. Hätte ich gewusst, was mich dort erwartete, wäre ich nicht so heiter gewesen.
Sämtliche Fünf Dutzend und Zehn warteten und sahen mir entgegen. Ich blieb ein paar Schritte von Al entfernt stehen. »Guten Morgen«, sagte ich.
Alpha machte eine Geste, worauf sich ein halbes Dutzend Bikura auf mich stürzte, meine Arme und Beine ergriff und mich auf den Boden drückte. Beta kam nach vorne und nahm einen scharfgeschliffenen Stein aus ihrem Gewand. Während ich vergeblich versuchte, mich zu befreien, schnitt sie meine Kleidung an der Vorderseite auf und zog die Fetzen beiseite, bis ich nackt war.
Ich hörte auf, mich zu wehren, als der Mob nach vorne drängte. Sie betrachteten meinen blassen, weißen Körper und murmelten irgendetwas. Ich konnte mein Herz schlagen spüren. »Es tut mir leid, wenn ich gegen eure Gesetze verstoßen habe«, sagte ich, »aber es besteht kein Grund …«
»Schweig!«, sagte Alpha und wandte sich an den großen Bikura mit der Narbe auf der Handfläche, den ich Zed nenne. »Er gehört nicht zur Kruziform.«
Zed nickte.
»Lasst mich erklären«, begann ich wieder, aber Alpha brachte mich durch einen Schlag mit dem Handrücken zum Schweigen, nach dem meine Lippen bluteten und meine Ohren klingelten. Die Geste hatte ebenso wenig Feindseligkeit ausgedrückt, als hätte ich ein Komlog mittels Knopfdruck zum Schweigen gebracht.
»Was sollen wir mit ihm machen?«, fragte Alpha.
»Wer dem Kreuz nicht folgt, muss den wahren Tod sterben«, sagte Beta, worauf die Menge nach vorne drängte. Viele hatten scharfgeschliffene Steine in den Händen. »Wer nicht zur Kruziform gehört, muss den wahren Tod sterben«, wiederholte Beta im Tonfall selbstgefälliger Endgültigkeit, der häufig religiösen Litaneien eigen ist.
»Ich folge dem Kreuz!«, schrie ich, als mich die Menge auf die Füße zerrte. Ich packte das Kruzifix, das ich um den Hals trug, und wehrte mich gegen den Druck ihrer Arme. Schließlich gelang es mir, das kleine Kreuz über den Kopf zu heben.
Alpha hielt die Hände hoch, worauf die Menge innehielt. In der plötzlichen Stille konnte ich den Fluss drei Kilometer unten in der Kluft rauschen hören. »Er trägt ein Kreuz«, sagte Alpha.
Del drängte sich nach vorn. »Aber er gehört nicht zur Kruziform! Ich habe es gesehen. Es war nicht, wie wir gedacht haben. Er gehört nicht zur Kruziform!« Mordlust war aus seiner Stimme herauszuhören.
Ich verfluchte mich, weil ich unachtsam und dumm gewesen war. Die Zukunft der Kirche hing von meinem Überleben ab, und ich hatte beides weggeworfen, weil ich mich in dem
Glauben gewiegt hatte, dass die Bikura dumme, harmlose Kinder seien.
»Wer dem Kreuz nicht folgt, muss den wahren Tod sterben«, wiederholte Beta. Es war ein endgültiges Urteil.
Siebzig Hände hoben Steine, als ich brüllend das Wort ergriff. Ich wusste, es war entweder meine letzte Chance oder mein endgültiger Untergang. »Ich war unter der Klippe und habe an eurem Altar gebetet! Ich folge dem Kreuz!«
Alpha und der Mob zögerten. Ich sah, dass sie sich mit diesem neuen Gedanken quälten. Es war nicht leicht für sie.
»Ich folge dem Kreuz und möchte zur Kruziform gehören«, sagte
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