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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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verbrannten meine Kleidung, mein Komlog, meine Aufzeichnungen, die Bandkassetten, Videochips, Datendiscs, den Scanner – alles, was Informationen enthalten hatte. Ich schrie sie an und versuchte, mich ins Feuer zu stürzen, und belegte sie mit Ausdrücken, die ich seit den Tagen meiner Kindheit auf der Straße nicht mehr benützt hatte. Sie beachteten mich gar nicht.
    Schließlich kam Alpha näher. »Du wirst zur Kruziform gehörig werden«, sagte er leise.
    Es war mir einerlei. Sie führten mich zu meiner Hütte zurück, wo ich eine Stunde lang weinte. Es steht keine Wache an der Tür. Vor einer Minute stand ich unter der Tür und überlegte mir, ob ich in die Flammenwälder laufen soll. Dann dachte ich an den viel kürzeren, aber nicht weniger tödlichen Weg zur Kluft.
    Ich tat nichts.
    Bald wird die Sonne untergehen. Der Wind kommt bereits auf. Bald. Bald.
     
    TAG 112:
    Ist es erst zwei Tage her? Es war eine Ewigkeit.
    Es ist heute Morgen nicht abgegangen. Es ist nicht abgegangen!
    Der Monitor des Medscanners ist direkt vor mir, aber ich kann es immer noch nicht glauben. Und doch ist es so. Ich gehöre jetzt zur Kruziform.
    Sie kamen kurz vor Sonnenuntergang zu mir. Alle. Ich wehrte mich nicht, als sie mich zum Rand der Klippe führten. Sie waren behender an den Ranken, als ich mir vorzustellen gewagt hätte. Ich hielt sie auf, aber sie waren geduldig und zeigten mir den einfachsten Halt, den schnellsten Weg.

    Hyperions Sonne war unter die tiefhängenden Wolken gesunken und über dem Begrenzungswall im Westen zu sehen, als wir die letzten Meter zur Basilika gingen. Die abendliche Windmusik war lauter, als ich erwartet hatte; es war, als würden wir in den Klappen einer riesigen Kirchenorgel stecken. Die Noten reichten von so tiefem Bassknurren, dass meine Knochen und Zähne davon vibrierten, bis zu hohen, schrillen Schreien, die mühelos in den Ultraschallbereich hinüberglitten.
    Alpha machte die äußere Tür auf, und wir durchquerten den Vorraum und betraten die eigentliche Basilika. Die Fünf Dutzend und Zehn bildeten einen großen Kreis um den Altar und das hohe Kreuz. Keine Litanei. Kein Gesang. Keine Zeremonie. Wir standen einfach schweigend da, während draußen der Wind durch die hohlen Säulen heulte und in dem großen in Stein gehauenen Saal widerhallte – hallte und widerhallte und immer lauter wurde, bis ich die Hände auf die Ohren drückte. Und die ganze Zeit erfüllten die leuchtenden horizontalen Sonnenstrahlen den Raum mit zunehmend dunkleren Tönen von Bernstein, Gold, Türkis und dann wieder Bernstein  – so kräftige Farben, dass die Atmosphäre fast zähflüssig wirkte und wie Farbe auf der Haut lag. Ich sah, wie das Licht auf das Kreuz fiel und in jedem einzelnen der tausend Edelsteine gehalten wurde, auch dann noch gehalten, so schien es, als die Sonne untergegangen war und die Fenster zum Grau der Dämmerung verblasst waren. Es war, als hätte das große Kruzifix das Licht absorbiert und strahlte es nun zu uns zurück – in uns. Dann wurde auch das Kreuz dunkel, der Wind ließ nach, und in der plötzlichen Düsternis sagte Alpha leise: »Bringt ihn mit.«
    Wir kamen auf den breiten Felsensims, wo Beta mit Fackeln wartete. Während Beta diese an einige wenige Auserwählte verteilte, dachte ich darüber nach, ob die Bikura Feuer ausschließlich
für rituelle Zwecke verwendeten. Dann ging Beta voran, und wir schritten die schmale in den Stein gehauene Treppe hinunter.
    Anfangs schleppte ich mich voll Todesangst dahin, drängte mich an die glatte Felswand und suchte nach vorstehenden Wurzeln oder Gesteinskanten – rechts von uns ging es so schnurgerade und endlos nach unten, dass es ans Absurde grenzte. Die uralte Treppe hinunterzusteigen war viel schlimmer, als an den Ranken der Klippe über uns zu hängen. Hier musste ich jedes Mal nach unten sehen, wenn ich einen Fuß auf die feuchten, schmalen, vom Alter glattgeschliffenen Stufen setzte. Ausrutschen und Abstürzen schienen anfangs wahrscheinlich, bald unvermeidlich.
    Da verspürte ich den Wunsch, einfach stehenzubleiben, wenigstens in die Sicherheit der Basilika zurückzukehren, aber die meisten der Fünf Dutzend und Zehn waren hinter mir auf der schmalen Treppe, und es schien unwahrscheinlich, dass sie zur Seite treten und mich vorbeilassen würden. Hinzu kam, dass meine verzehrende Neugier, was am Ende der Treppe warten mochte, letztlich doch größer war als die Angst. Ich blieb gerade lange genug stehen, dass ich zum

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