Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
Aufzeichnungen gefunden werden.
    Ich ließ mich ungefähr um 07:30 Uhr gestern Morgen über den Rand der Klippe hinunter. Die Bikura waren alle in den Wald zum Sammeln gegangen. Der Abstieg an den Ranken hatte einen einfachen Eindruck gemacht – sie waren zusammengebunden,
sodass eine Art Leiter entstand –, aber als ich mich über den Rand schwang und den Abstieg begann, konnte ich mein Herz so sehr klopfen spüren, dass es wehtat. Die Kluft fiel fast dreitausend Meter steil zu den Felsen und dem Fluss unten hinab. Ich hielt mich immer an mindestens zwei Ranken fest und arbeitete mich zentimeterweise nach unten, stets bemüht, nicht in den Abgrund unter meinen Füßen zu sehen.
    Ich brauchte fast eine ganze Stunde, um den Abstieg von etwa hundertfünfzig Metern zu bewerkstelligen, den die Bikura sicher in zehn Minuten schaffen. Schließlich erreichte ich die Krümmung eines Überhangs. Einige Ranken erstreckten sich ins Leere, aber die meisten krümmten sich unter dem vorstehenden Felsgesims zur dreißig Meter einwärts gelegenen Klippenwand. Hie und da schienen die Ranken geflochten zu sein, sodass sie primitive Brücken bildeten, auf denen die Bikura wahrscheinlich mit wenig bis gar keiner Unterstützung ihrer Hände gehen konnten. Ich kroch an diesen geflochtenen Reben entlang, klammerte mich dabei an anderen Ranken fest und murmelte Gebete, die ich seit meiner Kindheit nicht mehr aufgesagt hatte. Ich sah starr geradeaus, als könnte ich vergessen, dass eine scheinbar endlose Ausdehnung von Leere unter diesen schwankenden, ächzenden Strängen pflanzlicher Substanz wartete.
    Ein breiter Sims verlief an der Klippenwand entlang. Ich kroch, bis mich drei Meter davon vom Abgrund trennten, dann zwängte ich mich zwischen den Ranken hindurch und sprang die zweieinhalb Meter zum Fels hinab.
    Der Sims war etwa fünf Meter breit und hörte ein Stück entfernt im Nordosten auf, wo die große Masse des Überhangs begann. Ich folgte einem Weg auf dem Sims nach Südwesten und hatte zwanzig oder dreißig Schritte zurückgelegt, als ich wie vom Schock getroffen stehenblieb. Es war ein Pfad! Ein
aus solidem Fels getretener Pfad. Seine glänzende Oberfläche lag einige Zentimeter unter der des umliegenden Felsgesteins. Ein Stück weiter, wo der Pfad einen gekrümmten Absatz des Simses hinab zu einer breiteren, tieferen Ebene verlief, waren Stufen in den Fels gehauen worden, doch auch diese waren so ausgetreten, dass sie in der Mitte durchzuhängen schienen.
    Ich setzte mich einen Augenblick lang hin, als mir die Bedeutung dieser simplen Tatsache aufging. Nicht einmal vier Jahrhunderte Ausflüge der Fünf Dutzend und Zehn konnten für eine derartige Erosion soliden Felsens verantwortlich sein. Jemand oder etwas hatte diesen Pfad schon lange vor der Notlandung der Kolonisten benützt. Jemand oder etwas hatte diesen Pfad über viele Jahrtausende hinweg benützt!
    Ich stand auf und ging weiter. Abgesehen vom Wind, der sanft durch die einen halben Kilometer breite Kluft wehte, war kaum ein Laut zu hören. Ich stellte fest, dass ich das leise Rauschen des Flusses tief unten hören konnte.
    Der Pfad verlief nach links um einen Abschnitt der Klippe herum und hörte auf. Ich trat auf eine breite Plattform leicht abfallenden Felsens und sah mich um. Ich glaube, ich habe unwillkürlich das Zeichen des Kreuzes gemacht.
    Weil dieser Sims einen hundert Meter langen Klippenabsatz weit direkt von Norden nach Süden verlief, konnte ich durch die dreißig Meter lange Wunde der Kluft nach Westen zum freien Himmel sehen, wo das Plateau aufhört. Mir wurde sofort klar, dass die untergehende Sonne diesen Abschnitt der Klippenwand unter dem Überhang jeden Abend beleuchten würde. Ja, es hätte mich nicht überrascht, wenn Hyperions Sonne – an Frühlings- und Herbstsonnenwende – von diesem Beobachtungspunkt aus den Eindruck erwecken würde, als würde sie direkt in der Kluft versinken, sodass ihre roten Ränder gerade noch die rosa getönten Felsen berührten.
    Ich drehte mich nach links und studierte das Antlitz der
Klippe. Der ausgetretene Pfad führte über den breiten Sims zu Türen, die in das vertikale Gestein gemeißelt waren. Nein, es waren nicht nur Türen – es waren Portale, kunstvoll geschnitzte Portale mit fein gearbeiteten Steinzargen und Stürzen. Auf beiden Seiten der zwei Portale verliefen breite Fenster mit Buntglas, die sich mindestens zwanzig Meter Richtung Überhang hinauf erhoben. Ich trat näher und begutachtete die

Weitere Kostenlose Bücher