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Die Hyperion-Gesänge

Die Hyperion-Gesänge

Titel: Die Hyperion-Gesänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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doppeltem Zeitablauf davon, um sich dem Shrike entgegenzustellen.
     
    Ich erwache durch das Plätschern von Wasser und denke einen Moment lang, ich wäre während meines Spaziergangs mit Brown in der Nähe des Wasserfalls von Lodore aus einem Nickerchen erwacht. Aber als ich die Augen aufschlage, ist die Dunkelheit so furchteinflößend wie im Schlaf, und das Wasser klingt widerlich träge, nicht wie das Brausen des Katarakts, den Southey eines Tages in seinem Gedicht berühmt machen sollte, und ich fühle mich schrecklich – nicht nur krank und mit wundem Hals, den ich mir geholt habe, als Brown und ich närrischerweise vor dem Frühstück den Skiddaw erklommen haben –, sondern sterbenskrank, todgeweiht, mein Körper schmerzt nicht nur vom Wechselfieber, während Schleim und Feuer mir in Brust und Bauch brennen.
    Ich stehe auf und taste mich zum Fenster. Schwaches Licht dringt unter der Tür von Leigh Hunts Zimmer durch, und ich stelle fest, dass er mit brennender Lampe eingeschlafen ist.
Das wäre auch für mich nicht schlecht gewesen, aber jetzt ist es zu spät, sie anzuzünden, daher taste ich mich zu dem helleren Rechteck der Dunkelheit draußen, das sich vom schwärzeren Dunkel des Zimmers abhebt.
    Die Luft ist frisch und schwanger vom Geruch nach Regen. Ich stelle fest, das Geräusch, das mich aufgeweckt hat, ist Donner, während Blitze über den Himmel von Rom zucken. Kein Licht ist in der Stadt zu sehen. Wenn ich mich etwas aus dem Fenster lehne, sehe ich die regennasse Treppe über der Piazza sowie die Türme von Trinita dei Monti, die sich schwarz vor den Blitzen abzeichnen. Kalter Wind weht die Stufen herab, und ich gehe zum Bett zurück und ziehe eine Decke über mich, bevor ich einen Stuhl ans Fenster schiebe, mich setze, hinausblicke und nachdenke.
    Ich erinnere mich an meinen Bruder Tom in den letzten Tagen und Wochen, wie er Gesicht und Körper in der unmenschlichen Anstrengung des Atmens verzerrte. Ich erinnere mich an meine Mutter, wie blass sie ausgesehen hat und wie ihr Gesicht in der Düsternis des verdunkelten Zimmers fast leuchtete. Meiner Schwester und mir wurde gestattet, ihre klamme Hand zu berühren, ihre fiebrigen Lippen zu küssen, dann mussten wir uns zurückziehen. Ich weiß noch, wie ich mir einmal verstohlen die Lippen abgewischt habe, während wir das Zimmer verließen, worauf ich sofort nach rechts und links sah, ob meine Schwester oder andere diese sündige Tat gesehen hatten.
    Als Dr. Clark und ein italienischer Chirurg Keats’ Leichnam keine dreißig Stunden nach seinem Tod aufgeschnitten hatten, fanden sie, wie Severn später an einen Freund schrieb, »den allerschlimmsten Fall von Schwindsucht – die Lunge war vollkommen zerstört, die Zellen praktisch dahin«. Weder Dr. Clark noch der italienische Arzt konnten sich erklären, wie Keats die letzten zwei Monate oder länger noch hatte leben können.

    Über das alles denke ich nach, während ich in dem dunklen Zimmer sitze und auf die dunkle Piazza hinausblicke, während ich dem Brodeln in Brust und Lunge lausche und die Schmerzen wie Feuer in mir spüre, dazu die schlimmeren Schmerzen der Schreie in meinem Kopf: Schreie von Martin Silenus am Baum, der für das Gedicht leiden musste, das zu vollenden ich zu verzagt und feige gewesen war; Schreie von Fedmahn Kassad, der im Begriff ist, sich dem Shrike in die Arme zu werfen, um zu sterben; Schreie des Konsuls, der zum zweiten Mal zu einem Verrat gezwungen wird; Schreie aus Tausenden Tempelritterkehlen, die den Tod sowohl ihrer Welt wie auch ihres Bruders Het Masteen beweinen; Schreie von Brawne Lamia, die an ihren toten Geliebten denkt, meinen Zwillingsbruder; Schreie von Paul Duré, der darniederliegt, gegen die Verbrennungen und den Schock der Erinnerungen ankämpft und sich nur allzu deutlich bewusst ist, dass die Kruziform auf seiner Brust wartet; Schreie von Sol Weintraub, der mit der Faust auf den Boden von Hyperion schlägt und nach seinem Kind ruft, während das Weinen des Säuglings Rachel uns allen noch in den Ohren hallt.
    »Gottverdammt«, sage ich leise und schlage mit der Faust gegen Stein und Mörtel des Fensterrahmens. »Gottverdammt!«
    Nach einer Weile, als die erste Andeutung von Helligkeit von der Dämmerung kündet, gehe ich vom Fenster weg, taste mich zum Bett und lege mich hin, um noch für einen Moment die Augen zu schließen.
     
    Generalgouverneur Theo Lane erwachte durch Musik. Er blinzelte, sah sich um und erkannte den Tank mit Nährlösung in

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