Die Ich-Illusion
gebracht hat, und darstellen, was wir gegenwärtig über die Funktion des Gehirns wissen. Für ein besseres Verständnis einiger Antwortversuche darauf, was aus einer deterministischen Weltsicht folgt, wenden wir uns dann auch anderen Fachgebieten zu. Dabei gehen wir von der Mikrowelt der subatomaren Teilchen, an die Sie im Zusammenhang mit Neurowissenschaft wahrscheinlich bisher nicht gedacht haben, bis zur Makrowelt des menschlichen Zusammenlebens und damit zu Ihnen und Ihrem Kumpel, mit dem Sie vor dem Fernseher sitzen und das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft verfolgen. Diese Erkundungen werden uns zeigen, dass die Naturgesetze in den verschiedenen Größenordnungen der gegenständlichen Welt differieren, und wir werden sehen, was das für das menschliche Verhalten bedeutet. Am Schluss landen wir, ausgerechnet, vor Gericht.
Trotz all unseres Wissens über Physik, Chemie, Biologie, Psychologie und so weiter gibt es doch eine unleugbare Realität: Wenn man die beweglichen Elemente als Teile eines dynamischen Systems betrachtet, dann bleibt es dabei, dass wir für unsere Handlungen verantwortlich sind. Wie meine Kinder sagen: »Komm drüber weg.« Das menschliche Leben ist eigentlich eine tolle Sache.
KAPITEL 3
DER INTERPRET
Obwohl wir wissen, dass das Gehirn in eine Myriade Entscheidungszentren aufgeteilt ist und die neuronalen Aktivitäten auf einer Organisationsebene in der nächsten unerklärlich bleiben und es wie im Internet keinen Chef zu geben scheint, bleibt das Rätsel für uns Menschen bestehen. Die unterschwellige Überzeugung, dass wir Menschen ein »Ich« haben, das über alle unsere Handlungen entscheidet, ist ungebrochen. Es handelt sich um eine starke und überwältigende Illusion, die kaum zu erschüttern ist. Es gibt aber auch keinen Grund dafür, sie erschüttern oder überwinden zu wollen, denn sie ist uns überaus nützlich. Es gibt allerdings einen Grund zu versuchen, diese Ich-Illusion zu verstehen. Wenn wir erkennen, warum wir uns so fühlen, als hätten wir alles im Griff, obwohl wir wissen, dass wir erst mit Verzögerung merken, was unser Gehirn gerade tut, dann verstehen wir auch unsere Denk- und Wahrnehmungsfehler. Im folgenden Kapitel werden wir auch sehen, worauf wir in unserem Lebensraum schauen müssen, um das Zustandekommen persönlicher Verantwortung zu verstehen, und dass sie auch in unserer reduktionistischen Welt keineswegs untergegangen ist.
DER LANGE WEG ZUM BEWUSSTSEIN
Als Kind verbrachte ich viel Zeit in Südkalifornien, wo meine Eltern ein Stück Land besaßen – draußen in der Steppe, mit ihren ausgedörrten Sträuchern und Grasbüscheln, umgeben von violetten Bergen, Kreosotbüschen, Kojoten und Klapperschlangen. Ich bin heute noch am Leben, weil mich meine unbewussten, von der Evolution geschärften Prozesse gerettet haben – besonders die unwillkürliche Reaktion auf Schlangen, von der ich im vorigen Kapitel erzählt habe. Ich wich instinktiv vor vielen Klapperschlangen zurück, aber auch vor Gras, das bloß vom Wind bewegt wurde. Das heißt also, ich sprang zurück, bevor ich mir bewusst wurde, dass es nur der Wind war und keine Klapperschlange im Gras. Hätte ich mich nur meiner bewussten Prozesse bedient, wären mir unnötige Sprünge erspart geblieben, aber ich wäre auch mehr als ein Mal gebissen worden. Bewusste Prozesse laufen langsam ab, genau wie das, was wir als bewusste Entscheidungen betrachten.
Wenn ein Mensch geht, dann laufen die Informationen des Gesichtssinns und Gehörs zunächst im Thalamus zusammen, einer Art Relaisstation. Dann werden sie an die zuständigen Areale im Cortex zur Verarbeitung und von dort an die Stirnhirnrinde weitergeleitet. Hier werden sie mit anderen höheren geistigen Prozessen integriert, und anschließend dringt die Information vielleicht bis ins Bewusstsein vor. Dann erst nimmt man sie (Achtung, Schlange!) wahr. Wenn es sich um eine Klapperschlange handelt, liefert das Gedächtnis die Information der Giftigkeit und der Folgen eines Bisses dazu. Ich entscheide, dass ich nicht gebissen werden will, berechne schnell die Entfernung zur Schlange und ihre Reichweite und beantworte die Frage: Muss ich Richtung und Geschwindigkeit ändern? Ja, ich sollte zurückspringen. Die Muskeln erhalten das entsprechende Kommando und führen es aus. Alle diese Prozesse dauern ziemlich lange, ein oder zwei Sekunden, und in dieser Zeit bin ich vielleicht schon gebissen worden. Zum Glück geht alles viel schneller. Das Gehirn nimmt
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