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Die in der Hölle sind immer die anderen

Die in der Hölle sind immer die anderen

Titel: Die in der Hölle sind immer die anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Walker Jefferson
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eine Großstadt, schöne Einfamilienhäuser, ein Sterne-Restaurant, ein modernes Spaßbad, ein renoviertes Rathaus und einen Mercedes-Händler. Da Geußnitz aber nicht in der Nähe von Stuttgart liegt, sondern mitten auf der windgepeitschten Ebene zwischen Zeitz und Gera, hat es nichts von all dem. Geußnitz besteht aus verfallenen Häusern, schlammigen Ententeichen und malerischen Hühnerställen, einem Gasthaus, das den Namen nicht verdient, und einer Kirche, die weder unter Denkmalschutz steht noch irgend etwas Besonderes aufweist. Die einzigen neuen Häuser des Ortes liegen am Ortsrand an zwei frischgeteerten Straßen und sehen genau so aus, wie Ein- und Zweifamilienhäuser für Leute mit mittlerem Einkommen auf der ganzen Welt aussehen. Sie alle blicken auf die weite, langweilige Ebene in Richtung nach Meuselwitz. Kein Zaun, keine Hecke und kein Wald schützen die Häuser vor den Winden und den Schneeverwehungen der Wintermonate.
    Das letzte dieser neuen Häuser ist sein Ziel. Es ist kurz vor zehn, als er mit Standlicht in den Tulpenweg rollt und hundert Meter vor diesem Haus anhält. Er steigt aus, streckt und reckt sich und atmet die frische, kalte Luft ein. Er sieht sich um. In den meisten Häusern brennt Licht. Die Straße wird von zwei Peitschenleuchten erhellt, die weit auseinander stehen. Hier liegt noch mehr Schnee als in Leipzig. Wie Watte bedeckt er Autos, Hausdächer und Vorgärten. Seine Schuhe drücken den Schnee mit einem weichen, wolligen Knirschen zusammen und hinterlassen tiefe Stapfen.
    Er öffnet die Heckklappe und nimmt zwei Magazine für die Glock heraus. Eines davon steckt er in die Pistole, bis es mit einem metallischen Klicken einrastet. Dann zieht er den Schlitten vor und zurück, wodurch die erste Patrone in die Kammer geschoben wird. Endlich nimmt er einen schwarzen Attachékoffer aus dem Auto, schließt das Heck und geht langsam auf das Haus am Ende der Straße zu. Alle Fenster zur Straße hin sind dunkel. Weigandt geht einige Meter in die Garageneinfahrt an der linken Hausseite hinein. Er klettert über einen Sandhaufen, um von da einen Blick in den Garten zu werfen. Durch eine Thujen-Hecke sieht er einen Lichtschein in den Garten fallen. Das muß das Wohnzimmer sein.
    Weigandt weiß, daß es jetzt zu spät ist zum Umkehren. Er hätte jahrelang Zeit gehabt, umzukehren; er hätte nach Florians Tod einen anderen Weg einschlagen können; er hätte stillschweigend resignieren können, wie die Gesellschaft es von den Opfern von Verbrechern verlangt; er hätte verrückt werden oder ganz einfach verzeihen können. Das wäre das Bequemste gewesen: Nicolai zu verzeihen. Und das Feigste. Aber in allen Jahren, während derer er gewartet und geplant hat, ist er weder verrückt geworden, noch hat er resigniert, geschweige denn verziehen.
    Zehn Jahre lang ist dieser Tag das Ziel all seiner Fantasien, Sehnsüchte und Gedanken gewesen. Und nun ist er gekommen. Als er im Schnee vor der Haustür steht und die Glock entsichert, ist er vollkommen ruhig. Er verbirgt die schwarze Waffe im Mantel, dann steht er zwei oder drei Minuten vor der Tür und denkt an gar nichts. Schließlich tritt er einen Schritt vor und drückt auf den Knopf der Klingel.

Kapitel 6              
    In den Monaten, während derer ich nicht mehr mit Michael schlief, hatte ich die Pille abgesetzt. Trotzdem war ich fest davon überzeugt, von einem Mal nicht schwanger werden zu können. Ich war mittlerweile achtunddreißig und besaß einige Freundinnen, die es seit Jahren ohne Erfolg probierten. Warum sollte ich also von einem Mal gleich ein Kind bekommen?
    Aber genau das geschah. Als die Periode zum zweiten Mal ausblieb, machte ich den Test. Da ich nicht damit gerechnet hatte, war das Ergebnis niederschmetternd. Eine Woche lang erzählte ich Michael gar nichts. Ich ging zu meinem Frauenarzt und fragte ihn, wann, wo und wie ich abtreiben könnte. Mein Gynäkologe, ein ergrauter Veteran tausender Geburten, verstand meinen Wunsch überhaupt nicht. Abtreibung? Aber warum denn? Ich sei kerngesund, im besten Alter, genau jetzt sei die ideale Zeit für Kinder.
    „Sie sind doch auch gut situiert, wie ich höre. Haben Sie nicht gerade ein schönes Haus gebaut?“
    Ich nickte.
    Also, da käme das Kind doch genau richtig. Und es würde bestimmt gesund werden, er würde mich gleich untersuchen, mir hätte doch noch nie etwas gefehlt. Aber ich beharrte auf meinem Wunsch: Ich wollte abtreiben.
    Mein Arzt, den ich bislang als

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