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Die in der Hölle sind immer die anderen

Die in der Hölle sind immer die anderen

Titel: Die in der Hölle sind immer die anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Walker Jefferson
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Psychotherapeutin erinnern, die unsere Ehe retten sollte und damit ebenso kläglich scheiterte wie wir selbst. Aber etwas gelang ihr: Sie rettete unser Kind. Obwohl wir ihr immer wieder die Frage stellten, was wir denn eigentlich tun sollten, und sie genauso hartnäckig einer Antwort aus dem Weg ging, brachten die Gespräche mit ihr und mit Michael mich Schritt für Schritt dazu, dieses kleine Wesen in meinem Körper zu akzeptieren. Der Termin der Abtreibung kam und verstrich, ohne daß wir ihn noch einmal erwähnt hätten. Zu Hause redeten wir weder über die Paartherapie noch über das Kind. Wir lebten unser Leben, in dem jedes Rädchen in das andere griff, genauso effizient, lieblos und leer weiter, wie wir es immer schon getan hatten. Aber heimlich, still und leise wuchs unser Kind in mir und wußte noch nichts von all den Problemen, die es uns bereits damals verursachte.
***
    Als ich im vierten Monat war, verkündete Michael jedem, der es hören wollte, daß wir Nachwuchs erwarteten. Er freute sich wie ein Schneekönig darüber, endlich Vater zu werden. Und nun passierte etwas Erstaunliches: Ich begann, mich mit meinem Zustand anzufreunden. Da wir nun ein Kind bekommen sollten, beschloß ich, alles richtig zu machen und mich auf die Geburt zu freuen. Ich hatte eine leichte Schwangerschaft. Ich nahm kaum zu, mir war selten schlecht, und besonders unförmig wurde ich auch nicht.
    Meine Frauenärztin wurde meine beste Freundin. Sie war so alt wie ich und teilte meine Ansichten, was Männer, Mütter, Kinder und Berufschancen für Frauen anging. Damals hielt ich sie auch noch für eine ausgezeichnete Ärztin. Sie untersuchte mich doppelt so oft wie vorgeschrieben, und die Ergebnisse waren immer großartig. Ich trug ein gesundes Kind in mir, das sich genau nach Plan entwickelte. Wir erfuhren, daß wir einen Jungen bekommen würden. Mir war das Geschlecht egal, Michael hätte lieber ein Mädchen gehabt. Die Geburt würde genauso unspektakulär verlaufen wie meine Schwangerschaft, prophezeite meine neue Freundin fröhlich. Und es begann auch alles so.
    Ich war zwei Wochen über Termin, als an einem Morgen nach dem Frühstück die Fruchtblase platzte. Michael brachte mich ins Krankenhaus und wartete in Boss-Anzug und van-Laak-Hemd auf den Beginn der Wehen. Aber die Wehen setzten nicht ein. Nicht nach vierundzwanzig Stunden und auch nach achtundvierzig nicht. Am dritten Nachmittag entschied der Chefarzt, die Geburt künstlich einzuleiten. Als er sich endlich zum Kaiserschnitt entschloß, war es fast zu spät. Kurz vor Mitternacht brachte ich einen Jungen zur Welt, der nur zwei Kilo wog. Als die Schwester ihn hochhob, hatte ich den Eindruck, daß sein rechter Fuß merkwürdig verdreht vom Körper abstand.
    Die Wahrheit erfuhren wir erst zwei Tage später. Unser Sohn, den wir nach Michaels Großvater Florian nannten, hatte einen verkrüppelten rechten Fuß. Ein gutartiger Tumor in meiner Gebärmutter, groß wie eine Orange, hatte das Bein seitlich gegen die Wand der Gebärmutter gequetscht und deformiert. Meine Frauenärztin hatte trotz vieler Ultraschalluntersuchungen nichts bemerkt. In Michaels Augen blitzte der heiße Haß, als der Chefarzt ihm die Komplikationen bei Florians Geburt erklärte und nicht verschwieg, daß die Hüftdysplasie , wie diese Krankheit genannt wurde, unbedingt während der Schwangerschaft hätte erkannt werden müssen. Als wir alleine auf meinem Zimmer waren, konnte er seine Wut kaum noch zügeln. Ich fühlte mich kraftlos und unendlich traurig. Und ich wurde das Gefühl nicht los, daß unser Kind deshalb einen so verdrehten Fuß hatte, weil so viel Unheil seit dem Zeitpunkt der Zeugung über ihm gestanden hatte. Wie oft schon habe ich mir seitdem gesagt, daß es absurd ist, daß ich mir wieder und wieder die Schuld an all dem Unglück gebe, welches Florian in seinem kurzen Leben beschieden war, aber so ist es: Ich fühle mich an seiner Behinderung ebenso schuldig wie an seinem Tod.
    Michael brauchte genau eine Woche, um sich mit der Tatsache abzufinden, daß sein Sohn wahrscheinlich ein Leben lang einen Gehfehler haben würde, dann hatte er für sich den Entschluß gefaßt, Florians Behinderung durch verdoppelte Zuneigung auszugleichen. Und schon während der drei Monate, die Florian nach der Geburt im Krankenhaus bleiben mußte, kam bei Michael eine komplexe Maschinerie ins Laufen, die bis zum Tod unseres Sohnes unverändert weiterlief. Als wir unser Kind endlich mit nach Hause nehmen durften,

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