Die in der Hölle sind immer die anderen
der Luxemburger Klinik reservieren lassen, und das sagte ich ihm auch. Als er das hörte, raufte er sich buchstäblich die Haare. Er flehte mich an, nicht nach Luxemburg zu fahren. Als er sich wieder etwas beruhigt hatte, bat er um Bedenkzeit, so eine Entscheidung dürften wir nicht übers Knie brechen. Wir sollten in Urlaub fahren, eine Auszeit nehmen, am besten gleich morgen, und an einem schönen Ort alles in aller Ruhe überdenken.
Und tatsächlich: Michael, der nie länger als zwei Wochen im Jahr Urlaub nimmt und jede Reise Monate vorher bis auf die Stunde genau plant, setzte bereits am nächsten Tag alle Hebel in Bewegung, um mir die Ferien meines Lebens zu verschaffen. Er mietete in Saint-Tropez eine Villa in einem alten Park mit Meerblick und Privatstrand. Er packte Auto und Koffer und chauffierte mich den ganzen Weg nach Südfrankreich, die Restaurants und Hotels auf der Strecke waren streng nach dem Guide Michelin ausgewählt. Es sollte unser schönster Urlaub werden. Es war Anfang Juni, die Touristenmassen des Sommers noch fern, die Preise niedrig, das Meer erfrischend kühl und Michael so freundlich und zuvorkommend, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Obwohl wir den Urlaub eigentlich nutzen wollten, in Ruhe über das Kind in meinem Bauch und seine Zukunft zu sprechen, vermieden wir beide das Thema mit ängstlicher Sorgfalt. Keiner wollte den Zauber jener Tage zerstören.
Wieder zu Hause, waren wir der Lösung des Problems keinen Schritt näher. Ich war fest entschlossen, in zwei Wochen in die Klinik zu gehen. Als Michael merkte, daß er mich zum ersten Mal in unserer Ehe nicht von seiner Meinung überzeugen konnte, wurde er rastlos und verzweifelt. Er bestand auf einem Gespräch mit meiner Frauenärztin. Als diese ohne Zögern für mich Partei ergriff und eine Abtreibung als einen vollkommen normalen Eingriff bezeichnete, der jedes Jahr allein in Deutschland viele tausend Male komplikationslos durchgeführt werde, stand er von seinem Stuhl auf und ging mit solcher Vehemenz auf die Ärztin los, daß ich dachte, er würde sie jeden Moment ohrfeigen.
An einem Morgen fand ich einen Computerausdruck auf dem Frühstückstisch, auf dem stand: Da rief sie einen Jäger, und sprach ‚bring das Kind hinaus in den Wald, ich will's nicht mehr vor meinen Augen sehen. Dort sollst du’s töten und mir Lunge und Leber zum Wahrzeichen mitbringen‘.
„Was soll das?“ fragte ich Michael, als er am Abend heimkam. „Ist das von dir?“
„Nein, das ist aus Schneewittchen“, antwortete er. „Erinnerst du dich nicht mehr: Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land? Hast du vergessen, daß die Königin dem Jäger befiehlt, Schneewittchen zu ermorden?“
„Ich weiß nicht, was das mit mir ...“
„Du weißt ganz genau, was das mit dir zu tun hat“, sagte er und haute mit der Faust auf den Tisch. „Und, geben sie dir in Luxemburg Leber und Lunge im Kühlbeutel mit?“
„Verdammt nochmal, Michael, was glaubt du eigentlich, wie du mit mir reden kannst?“
Er wischte mit dem Arm über den Tisch.
„Im Märchen werden die Bösen am Schluß bestraft. Weißt du wenigstens das noch?“
Wir redeten tagelang nicht miteinander. Der Termin rückte immer näher. Spät an einem Abend kam er von einem Besuch bei seinen Eltern zurück. Er hätte alles mit ihnen, seinen Brüdern und ihren Frauen besprochen.
„Und was hat der Familienrat entschieden?“ fragte ich.
„Wir sollen zu einer Eheberatung gehen und über alles mit einem Psychologen reden.“
Ich war dagegen. Was sollte denn das in der kurzen Zeit, die uns noch blieb, bringen? Wir hätten schon viel früher einen Eheberater aufsuchen sollen.
„Das kannst du mir einfach nicht verweigern“, sagte Michael, und er sagte es mit so viel Schmerz und Qual in der Stimme, daß ich einwilligte.
Meine Frauenärztin empfahl uns eine Studienkollegin, die sich auf Notfälle wie uns spezialisiert hatte. Wir fuhren in eine Wohnzimmer-Praxis nach Landstuhl und zogen uns seelisch vor einer pausbäckigen Frau in Schottenrock und Wollstrümpfen aus. Viermal pro Woche à zweihundert Mark erzählten wir ihr von unseren Kindheiten, unseren Wünschen, Ängsten, Sehnsüchten, Träumen und Phobien. Jeder durfte laut sagen, was ihm am anderen nicht paßte, und der andere mußte dann sagen, wie er sich jetzt fühlte. Ihre stereotype Frage: Und wie fühlen Sie sich jetzt? wird mich immer an die übergewichtige, kettenrauchende und dabei vollkommen konzeptlose
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