Die in der Hölle sind immer die anderen
Kriminalpolizei.“
Weigandt dreht den Schirm der Stehlampe und richtet den Lichtkegel auf Nicolais Gesicht.
„Weißt du jetzt, von welchem Tag ich rede?“
Der Mann an der Heizung hebt die Arme, soweit es die Handschellen zulassen, vor das Gesicht, um gegen den blendenden Lichtstrahl sehen zu können. Er sieht den Mann auf der Couch genau an, und dann blitzen erst Erkennen und endlich Entsetzen in seinen hellen grauen Augen auf.
„Ich weiß, wovon Sie reden, und ich weiß jetzt auch, wer Sie sind. Sie waren damals viel kräftiger und Ihre Haare waren nicht so grau, aber Sie sind es, ja, Sie sind der Vater des Jungen.“
Nicolai spricht diese Worte leise, unbetont und fast gleichgültig. Seine Stimme klingt, als würde er mit sich selbst sprechen.
Weigandt nickt, sagt aber nichts. Er geht zu Nicolai und überprüft die Handschellen. Er stellt den Fernseher so laut es geht, ohne daß die Nachbarn aufmerksam werden. Dann verläßt er, ohne sich nochmals nach Nicolai umzusehen, das Haus und geht zu seinem Auto, um eine Sporttasche zu holen. Kein Mensch ist auf der Straße. Es ist still wie an einem Weihnachtsabend.
Als er Nicolai wieder gegenüber sitzt, nimmt er eine Thermosflasche aus der Tasche und gießt sich einen Becher heißen Kaffees ein. Er spürt die Wärme des Getränks durch den Plastikbecher hindurch. Er ißt ein Sandwich dazu und fühlt sich frischer. Kraft und Entschlossenheit durchströmen ihn. Eine wilde, rauschhafte Freude steigt in ihm auf. Nicolai gehört jetzt ihm. Ganz und gar und für immer.
Weigandt schaut auf die Uhr: Halb zwölf. Wie lang wird Nicolai noch leben? Vier Stunden? Fünf Stunden? Die ganze Nacht? Egal. Wenn der Morgen graut, wird er tot sein. Dann wird Weigandt zwei Stunden schlafen, aber bei Tagesanbruch muß er bereits auf dem Rückweg sein. Es wird eine lange und anstrengende Nacht werden, aber kein Preis, den er dafür zahlen müßte, wäre ihm zu hoch, denn es ist die letzte Nacht im Leben des Falko Nicolai: Aushilfskoch, Dichter und Mörder.
Kapitel 8
Die neun Jahre mit Florian waren die schönste Zeit meines Lebens. Obwohl die Sorgen um Florians Gesundheit diese Jahre ausfüllten und meine Karriere in der Pharmaindustrie vorbei war, war es doch die einzige Zeit meines Lebens, in der ich ein Familienleben hatte. Die Sorgen um Florians Gesundheit ließen die Spannungen zwischen Michael und mir in den Hintergrund treten. Meine Ungeduld, mein beruflicher Streß und die stete Anspannung, die der Job mit sich gebracht hatte, wichen einer anfangs erzwungen Geduld, die sich jedoch nach und nach in eine immer erfülltere Zufriedenheit wandelte. Während früher Meetings, Vertragsabschlüsse, Marktanteile, Verkaufszahlen, Wachstumsraten und Neid und Konkurrenz unter Kollegen mein Leben bestimmt hatten, so waren es nun Florians Entwicklung und die medizinischen Fortschritte, die er von Jahr zu Jahr machte. Das aber war etwas Reales, etwas, das von Woche zu Woche wuchs und blühte.
Im ersten Jahr hatten die Ärzte uns noch Hoffnung gemacht, daß er irgendwie doch noch ein ganz normales Kind werden würde. Das wächst sich aus , hörten wir. Florians angeborene Hüftluxation habe eine günstige Prognose. Doch nach einem Jahr, wenn andere Kinder anfangen zu laufen, konnte Florian noch nicht einmal krabbeln. Als er seine ersten Schritte tat, war er über vier Jahre alt.
Es gibt nichts, was wir in diesen Jahren nicht probiert hätten, um ihm zu helfen. Es begann, als er noch ein Säugling war. Wir erlernten die Vojta-Therapie und führten monatelang mit Florian gymnastische Übungen durch. Als das nichts half, wurden ihm Bandagen angelegt, die die Strampelbewegungen in eine bestimme Richtung lenkten. Das sollte den Hüftkopf zurück in die Gelenkpfanne drücken. Auch das bewirkte nichts. Also wurde dem Kind ein Gips verpaßt, der es wochenlang in eine unnatürliche Hockstellung zwang. Diese Therapie war ebenso erfolglos wie die vorhergehenden, aber der Gips schnürte die Blutzufuhr zum Hüftgelenk ab und verursachte eine Nekrose des Hüftkopfs, die Legg-Calvé-Perthes-Krankheit. Dabei sterben ganze Bereiche des Gewebes über dem Becken ab. Die Folge sind unerträgliche Schmerzen. Damals war Florian gerade ein Jahr alt. Er schrie und schrie und schrie, tage- und nächtelang. Michael und ich lösten uns wochenlang an seinem Bett ab, um ihn zu trösten und zu beruhigen. Manchmal waren wir beide von Florians Leiden so geschafft, daß auch uns die Tränen
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