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Die in der Hölle sind immer die anderen

Die in der Hölle sind immer die anderen

Titel: Die in der Hölle sind immer die anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Walker Jefferson
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kamen, aus Verzweiflung, Übermüdung und Hoffnungslosigkeit. Michael verbrachte, und dafür bin ich ihm heute noch dankbar, die Urlaube zweier Jahre in Florians Krankenzimmern.
    „Und jetzt?“ fragten wir, als Florian nach seiner dritten Operation aus der Narkose erwachte. Eine Restdysplasie werde bleiben, erklärte uns der silbergraue, löwenmähnige Chefarzt der Orthopädie an der Uniklinik Saarbrücken in seinem heiseren Singsang, der uns anscheinend beruhigen sollte.
    Ich weiß noch, wie ich dann die Beherrschung verlor. „Was ist denn das, eine Restdysplasie ? Was heißt das für unser Kind?“ schrie ich immer wieder in dem winzigen Behandlungszimmer mit Blick auf den betonierten Innenhof.
    „Das heißt“, sagte diese porschefahrende Kapazität, die ausschließlich Privatpatienten wie uns behandelte, mit gepreßter Stimme, „daß Ihr Kind nie richtig laufen wird.“
    „Nie?“ fragte ich. „Bis er erwachsen ist?“
    „Nie“.
    Gut. Nun wußten wir es endlich. Aber damit gaben wir uns nicht zufrieden. In den nächsten Jahren sind wir bei zwanzig Ärzten gewesen und haben mindestens genauso viele unterschiedliche Diagnosen gehört. Der arme Florian mußte zig Untersuchungen in Praxen weltbekannter Spezialisten, in High-Tech-Krankenhäusern und in obskuren Heilpraktikerzimmern über sich ergehen lassen. Wir reisten von Zürich nach Graz, von Wien nach Düsseldorf, von Freiburg nach Berlin, immer auf der Suche nach einem Spezialisten, der Florian helfen würde. Aber niemand konnte es. Es sah so aus, als würde Florian sein Leben lang gehbehindert bleiben und, wenn überhaupt, dann nur an Krücken und mit einer Beinschiene gehen können.
    Der erste Hoffnungsstrahl kam, als wir von einem Oberarzt am Klinikum in Ludwigshafen hörten, der an Sportlern bereits wahre Wunder vollbracht haben sollte. Wir fuhren hin und trafen einen dicken Mann mit grauem Stoppelbart und rotem Gesicht, der uns knapp erklärte, daß er mit Kindern keinerlei Erfahrung hätte.
    „Wollen Sie sich Florian nicht einmal ansehen?“
    „Ich verstehe nichts von Kindern.“
    Nach diesen Worten ging Michael aus dem Zimmer und holte Florian herein, der mit meiner Mutter draußen gewartet hatte. Michael stieß die Tür auf und schob Florian vor sich her. Florian war damals fünf Jahre alt und konnte an Kinderkrücken langsam gehen. Er war aber noch so unsicher auf seinen Beinen, daß er keine drei Meter ohne die helfende Hand eines Erwachsenen zurücklegen konnte. Florian tapste bis zur Mitte des Zimmers, schaute dann an einer medizinischen Puppe hinauf, die hinter dem Arzt auf einem Tisch stand, und fiel auf den Boden. Er ließ seine Krücken fallen, rollte sich ab, wie er es schon tausend Male getan hatte, blieb dann auf dem Boden sitzen und lachte. Er lachte immer, wenn er umfiel. Dann zeigte er auf die Puppe und sagte zu dem Arzt: Bis das du?
    Damit war das Eis gebrochen. Der Arzt untersuchte Florian und nickte bedächtig mit dem Kopf. Versprechen könne er gar nichts. Er würde es sich überlegen und uns einen Bericht schicken.
    Dieser Mann hat Florian in den nächsten Jahren insgesamt siebenmal operiert. Florian hat in dieser Zeit ein ganzes Jahr im Krankenhaus verbracht. Wir sind mit zwei Autos mehr als hunderttausend Kilometer zwischen Saarbrücken und Ludwigshafen gefahren und haben in Oggersheim eine Wohnung gemietet, damit einer von uns immer bei Florian sein konnte. Wenn Florian kein Krankenhaustrauma bekommen hat, sondern sich zu einem selbstbewußten, fröhlichen Kind entwickelte, dann haben wir das diesem Mediziner zu verdanken, der sich von Florian „Richard“ nennen ließ und eine schier endlose Geduld gebündelt mit Verachtung für die Spielregeln der Schulmedizin und die Einstellung seiner Klinikleitung zeigte. Nach der letzten Operation war Florians linkes Bein immer noch kürzer und schwächer als sein rechtes, aber er konnte nun ohne Krücken sicher gehen.
    Nach Florians Geburt bin ich sieben Jahre zu Hause geblieben. Erst dann war er körperlich so weit, daß er eingeschult werden konnte. In den ersten Jahren, als ich begriff, daß es mit einer raschen Rückkehr in den Beruf nichts werden würde, hätte ich schreien können vor zorniger Frustration. Schon nach einem halben Jahr war meine Stelle vergeben. Mein Nachfolger, ein Pharmazeut, der nicht promoviert war und für weniger Arbeit mehr Geld erhielt, erklärte mir ohne eine Spur von Ironie, daß die Firmenleitung nie wieder eine so verantwortungsvolle Stelle einer

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