Die in der Hölle sind immer die anderen
so doch ganz zufrieden und angenehm leben würden. Ich will jetzt nicht übertreiben: aus Michael wurde nie der sanfte, zärtliche, respektvolle und dabei verständnisvoll-romantische Mann, den ich mir einmal erträumt hatte. Aber das war eben ein Traum gewesen, und Träume werden selten wahr. Jetzt befand ich mich im Wachzustand, und der war immerhin akzeptabel. Materiell auf jeden Fall.
Obwohl ich nicht mehr arbeitete, ging es uns besser denn je. Michael leitete nun die Saarbrücker Niederlassung von Smith & Wyndham mit fünfzig Mitarbeitern und verdiente eine halbe Million Mark im Jahr. Eine festangestellte Haushaltshilfe und ein Au-pair-Mädchen, das uns auch in den Urlaub begleitete, waren kein Luxus für uns, sondern eine Selbstverständlichkeit. Wir führten ein reges gesellschaftliches Leben, dessen uneingestandenes Ziel es war, hochkarätige Mandate für Michael zu werben. Wir tanzten auf Silvesterbällen im Staatstheater, waren auf den Festen bei Villeroy und Boch gerngesehene Gäste und ersteigerten auf den Benefizgalas der Saarbrücker Nachrichten teuren Plunder, den wir nicht brauchten.
Als Florian in die Schule kam, fing ich wieder an zu arbeiten. Bei einem anderen Unternehmen und halbtags. Weder meine Stellung noch mein Gehalt waren mit meiner früheren Position vergleichbar. Aber nun war es mir egal. Es stimmt nicht, wenn ich jetzt sage, ich hätte mich damit abgefunden, mich um Florian zu kümmern, denn so war es nicht. Ich mußte mich nicht damit abfinden, es war meine Lebensaufgabe geworden.
Mit seinen sieben Jahren war Florian schmächtig, zart und kleiner als seine Klassenkameraden. Wollte er weitere Strecken gehen, mußte er immer noch Krücken benutzen. Radfahren konnte er nur mit einem speziell für ihn angefertigten Dreirad. Sein rechtes Bein war auch nach all den Operationen noch fünf Zentimeter kürzer und deutlich schwächer als sein linkes. In den ersten Wochen nach Schulbeginn hatten wir große Angst um ihn. Er war körperlich seinen Mitschülern so weit unterlegen, daß wir fürchteten, Florian würde ein ständiges Objekt von Hänseleien und kindlichen Grausamkeiten werden. Aber es kam anders. In seiner ganzen kurzen Schulzeit ist er nie von einem Mitschüler auch nur rauh angefaßt worden. Ich glaube, der Grund dafür war sein ruhiges, ausgleichendes Wesen. Florian war imstande, auf einen älteren, viel kräftigeren Jungen zuzugehen und zu sagen: Du bist größer und stärker als ich, und ich kann mich gegen dich nicht wehren. Als ich ein kleines Kind war, bin ich nämlich ganz oft operiert worden, und deshalb bin ich jetzt nicht so stark wie du .
***
Florian verschwand am dreizehnten Oktober 1992. Es war ein klarer, warmer, strahlend blauer Herbsttag, wie er schöner nicht sein kann. An diesem Tag wollte er mit dem Rad in die Schule fahren. Was habe ich mir später für Vorwürfe gemacht, daß ich ihn einfach fahren ließ. Hätte ich ihn mit dem Auto in die Schule gebracht, dann hätte Nicolai ihn nie gesehen, er hätte Florian nicht in sein Auto zerren können und nichts wäre geschehen. Aber Florian ist mit dem Rad gefahren, und ich habe es erlaubt. Aber er war ja zuvor schon oft mit dem Rad gefahren. Unser Haus lag doch nicht einmal zwei Kilometer von der Schule entfernt.
Der Tag, an dem ich ihn zum letzten Mal sah, war ein Dienstag. Nach dem Frühstück öffnete ich die Garage, wir holten sein Rad heraus, ich zog ihm noch den Reißverschluß der Jacke hinauf, wie Mütter das eben so tun, steckte ihm ein Pausenbrot in seine Schultasche und gab ihm einen Kuß. Ich weiß nicht mehr, was wir noch geredet haben, Belanglosigkeiten vermutlich. Alles war wie immer. Ich sehe ihn noch die Allee hinunterfahren, er winkte kurz vor der Kurve noch einmal, was er oft tat, und dann verschwand er hinter den Platanen, die kaum ein Blatt abgeworfen hatten. Über den Himmel zogen von Westen her rotgeschweifte Wolkenfetzen. Das Wetter wird umschlagen, dachte ich noch, bevor ich wieder ins Haus ging.
Als ich kurz nach Mittag aus dem Büro kam, war Florian noch nicht zu Hause. Das war nicht ungewöhnlich, er trödelt manchmal auf dem Rückweg von der Schule, und es ist schon vorgekommen, daß er bei einem Freund zu Mittag gegessen hat. Ich esse also allein und lese die Zeitung. Bis nachmittags um drei rede ich mir ein, daß alles in Ordnung ist, jetzt muß er aber jeden Moment kommen. Als es vier Uhr wird, bin ich schließlich so nervös, daß ich es nicht länger aushalte. Wo bleibt der Junge
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