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Die in der Hölle sind immer die anderen

Die in der Hölle sind immer die anderen

Titel: Die in der Hölle sind immer die anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Walker Jefferson
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Augen.“
    Nicolai richtet sich schwerfällig auf und wankt in Richtung Fenster. Er geht in die Knie, streckt die gefesselten Hände von sich und setzt sich mit dem Rücken gegen die Heizung. Weigandt öffnet eine Handschelle, legt die Kette um das obere Zulaufrohr der Heizung und schließt die Handschellen wieder. Er holt einen Kabelbinder aus seinem Koffer, legt den Kabelstraps um Nicolais Fußknöchel und zieht fest zu.
    Dann tritt er einige Schritte zurück, sichert die Pistole und steckt sie in das Schulterholster. Er nimmt die Fernbedienung des Fernsehers und dreht den Ton lauter. Schließlich setzt er sich Nicolai gegenüber auf den Couchtisch und sieht erst die Lache aus grünlichem Erbrochenem auf dem Teppich und dann Nicolai an, der mit weit aufgerissenen Augen, die jedoch nichts fixieren, am Heizkörper hängt. Weigandt wird allmählich ruhiger.
***
    Weigandts Züge zeichnen sich scharf gegen den Hintergrund ab. Im Licht des Fernsehers sieht er alt und müde aus. Er sitzt einige Minuten unbeweglich auf dem Couchtisch. Endlich greift er in seinen Attaché-Koffer und holte einen länglichen Gegenstand heraus, der im Halbdunkel wie ein Holzstock aussieht. Es ist eine aus Lederriemen geflochtene Reitpeitsche, die in einer mit Messingnieten beschlagenen Quaste endet. Er legt die Peitsche neben sich auf den Couchtisch und wartet darauf, daß Nicolai ein Lebenszeichen von sich gibt. Nicolai blickt Weigandt aus glasigen Augen an. Sein rechtes Augenlid zuckt unkontrolliert. Er würgt Erbrochenes heraus und hustet es auf sein Hemd.
    „Wer sind Sie?“ flüstert er heiser. „Was wollen Sie von mir?“
    Er versucht, sich aufzurichten, wird aber von den Handschellen zurückgehalten. Sein Kopf schlägt gegen die Heizung.
    „Was wollen Sie von mir?“
    „Mit dir reden.“
    Der Mann an der Heizung zieht seine Beine seitwärts an den Körper. Schließlich gelingt es ihm, sich etwas aufzurichten.
    „Mit mir reden? Hören Sie, ich weiß nicht, was Sie von mir wollen, aber hier gibt’s nichts zu holen. Sie können den Fernseher und den Videoplayer mitnehmen, aber das ist alles, was ich habe. Es ist kein Bargeld im Haus und Schmuck hab ich nicht.“
    „Ich bin nicht gekommen, um etwas mitzunehmen.“
    „Warum dann?“
    „Weil ich etwas von dir wissen will.“
    Nicolai wischt sich den Mund mit seinem Hemdsärmel ab. Er schüttelt den Kopf und atmet laut durch die Nase aus.
    „Und weil Sie etwas von mir wissen wollen, müssen Sie dieses Waffenarsenal mitbringen und mich überfallen? Was kann ich schon wissen, was ich Ihnen nicht auch so gesagt hätte, ohne Pistole vor dem Kopf?“
    Weigandt blickt durch die Terrassentür in die Dunkelheit. Die Wohnzimmerfenster öffnen sich auf die Westseite des Hauses. Der Schneesturm hat nachgelassen, aber der Wind treibt noch immer Schneeflocken fast waagrecht gegen die Fenster. Zwei jungen Birken biegen sich im Wind, der immer wieder aus einer anderen Richtung weht. Weigandt sieht weiter in die Dunkelheit hinaus, als er endlich antwortet.
    „Ich will etwas wissen, was nur du alleine weißt. Und um das zu erfahren, bin ich gekommen.“
    „Was weiß nur ich? Ich kenne Sie doch überhaupt nicht.“
    „Du kennt mich nicht? Nein? Aber kenne dich. Ich weiß mehr über dich als irgendein Mensch auf der Welt weiß.“
    „Wovon reden Sie?“
    „Ich rede von einem längst vergangenen Herbsttag. Von einem jener Tage, wie es sie nur im Oktober gibt, wenn der Himmel stahlblau ist und die Sonne alles in ein weiches und doch klares Licht taucht, wenn ein leiser Wind die Blätter bewegt und es am Nachmittag noch einmal so warm wird, daß man meint, den Sommer noch zu spüren, während einem die Kühle des Abends und der Tau der Nacht doch zeigen, daß der Tag und das Jahr und manchmal auch das Leben zur Neige gehen. Von einem solchen Tag rede ich. Ich rede vom dreizehnten Oktober 1992. Erinnerst du dich jetzt?“
    Weigandt rutscht auf der Couch nach vorne und sieht Nicolai wieder direkt ins Gesicht. Nicolai antwortet nicht sofort.
    „Das ist zehn Jahre her. Ich kann mich doch nicht an jeden einzelnen Tag von vor ...“
    Weigandt unterbricht ihn ruhig und spricht monoton weiter. Seine Stimme verrät nichts von seiner inneren Bewegung.
    „Der dreizehnte Oktober 1992 war der Tag, an dem ein Mann einen neunjährigen Jungen auf dem Schulweg in sein Auto zerrte, mit ihm in den Wald fuhr, den Jungen sexuell mißbrauchte und ihn dann mit einem Ast erschlug, so steht es zumindest im Protokoll der

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