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Die in der Hölle sind immer die anderen

Die in der Hölle sind immer die anderen

Titel: Die in der Hölle sind immer die anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Walker Jefferson
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Frau übertragen würde. Denn, fügte er ernsthaft an, eine andere Frau würde auch schwanger werden, und wer könne wissen, ob die nicht auch mit einem behinderten Kind auf Jahre zu Hause bliebe? Heute frage ich mich, warum ich damals nicht aufgestanden bin und dem Typen einfach eine gescheuert habe. Aber was habe ich getan? Ich blieb sitzen, entbot höflich mein Verständnis und entschuldigte mich praktisch dafür, daß ich schwanger geworden war und ein behindertes Kind geboren hatte.
    Allein das alles spielte irgendwann keine Rolle mehr, denn Florian entgalt uns alle Unbill durch seinen bezaubernden Charakter. Natürlich: alle Eltern halten die eigenen Kinder für die besten, die schönsten und die intelligentesten; aber auch wenn ich diesen Bonus für den eigenen Nachwuchs abziehe, dann war er immer noch ein außergewöhnliches Kind. Schon als kleiner Junge war er geduldig und verständnisvoll. Als er vier oder fünf war, fing er an, Michael und mich zu beruhigen. Er erklärte uns, wir sollten uns um ihn keine Sorgen machen, irgendwann würde er gehen können. Die Operationen, die Zeit in Krankenhäusern und Wartezimmern und sein ständiges Leben unter Erwachsenen hatten Florian eine kindliche Weisheit, eine Sanftmut und eine oft altkluge Intelligenz gegeben, die ihn um Jahre älter wirken ließ, als er es tatsächlich war.
    Und Florian gelang noch etwas, das ich nicht mehr für möglich gehalten hätte: Er brachte mich und Michael näher zusammen, als wir es jemals gewesen waren. Es ist merkwürdig: Wie viele Frauen haben mir erzählt, daß es in ihren Ehen zu kriseln anfing, als das erste Kind kam. Dadurch wurden sie wieder auf die Frauen- und Mutterrolle reduziert, mit Sex war auch nichts mehr los, und schließlich zerfiel die einstmals harmonische Partnerschaft in ein Nebeneinander von zwei Wesen, die in Beruf, Haushalt und Kinderbetreuung nur noch funktionierten.
    Bei uns war es anders, und das war wahrscheinlich deshalb so schön, weil wir es beide nicht erwartet hatten. Florian brachte in Michael Charakterzüge zum Vorschein, die ich bis dahin nicht gekannt hatte. Derselbe Mann, der Sekretärinnen zum Heulen und Mitarbeiter zur Kündigung brachte, fütterte Florian stundenlang, verabreichte stoisch Flasche um Flasche und stand in der Nacht alle zwei Stunden auf, um Florian mit einem Tuch südamerikanischer Indianer singend in den Schlaf zu schaukeln. Michael, so zeigte sich nun plötzlich, hatte Geduld, Einfühlungsvermögen und eine poetische Kreativität, die einem Kinderbuchautor zur Ehre gereicht hätte. Wenn ich an Florian denke, wie er da so vor Michaels - inzwischen beträchtlichem - Bauch in seinem Tuch pendelte, fällt mir immer die Geschichte von den besten Bären ein. Florian war am Abend nur zum Einschlafen zu bewegen, wenn Michael ihm noch eine Geschichte erzählte. Einmal, als Michael auf Dienstreise war, Florian wird vier oder fünf gewesen sein, wollte auch ich Florian eine Geschichte erzählen. Ich nahm also ein Buch und kündigte mit feierlicher Stimme an, daß ich die Geschichte von Goldilocks vorlesen würde.
    „Nein“, sagte Florian, „die nicht. Du mußt die Geschichte von den Bären weitererzählen.“
    „Von welchen Bären?“
    „Na, die von den besten Bären. Die nach Alaska fahren.“
    Ich hatte noch nie etwas von Bären gehört, die nach Alaska fahren, und las frustriert Goldilocks vor.
    Es stellte sich jedoch heraus, daß Michael eine lange Geschichte von dreizehn Bären erfunden hatte, die einen Reisebus mieten (einen „Luxusbus“, wie Florian betonte) und nach Alaska fahren, weil Bären da unter Naturschutz stehen.
    Als Michael wieder zurück war, lauschte ich draußen an der Tür, was er Florian da vor dem Einschlafen immer so lange erzählte. Und tatsächlich: Michael begann mit der Stimme eines Rundfunksprechers Florian davon zu berichten, wie die Bären ihren Bus bestiegen; wie der große Eisbär ganz nach hinten auf die breite Bank mußte, weil er nirgendwo anders sitzen konnte; wie der Pandabär dem Fahrer den Weg nach China beschrieb; wie der Blaubär den Kühlschrank des Busses schon vor der Abfahrt plünderte, und wie der Waschbär dem kleinen Florian, der mit nach Alaska fuhr, die Bärensprache beibrachte. Und all das las Michael nicht aus einem Buch vor, sondern dachte es sich offenbar während des Erzählens aus.
    Die Jahre bis zu Florians Tod waren so schön, daß ich bald davon überzeugt war, daß wir drei nun auf ewig, wenn schon nicht überglücklich,

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