Die in der Hölle sind immer die anderen
denn nur? Ich suche die Telefonnummern der beiden Mitschüler heraus, die denselben Heimweg wie Florian haben. Bei keinem wird das Telefon abgehoben. Ich gehe mit dem Telefon in der Hand im Haus auf und ab und überlege, wo Florian nur sein kann. Habe ich eine Veranstaltung am Nachmittag vergessen? Ein Sportfest? Einen Film, ein Theaterstück, einen Schulausflug? Ich schüttle den Kopf. Ich kann doch nicht einen Schulausflug vergessen haben. So etwas ist mir noch nie passiert. Schließlich rufe ich in der Schule an, aber da meldet sich niemand. Jetzt halte ich es im Haus nicht mehr aus. Ich setze mich ins Auto und rase die zwei Kilometer zur Schule.
Hof und Schulgebäude sind wie ausgestorben. Die Fahrradhalle liegt verlassen und leer. Ich laufe vor der breiten Backsteinfassade aus der Kaiserzeit auf und ab und treffe keinen Menschen. Es gibt nicht mal eine Klingel. Ich renne um das Gebäude herum, schreie und rufe, bis ich endlich den Hausmeister hinter einem Rasenmäher sehe. Ich gestikuliere, er stellt das Ding ab, aber er kennt Florian gar nicht. Ich zeige ihm ein Foto, beschreibe ihm, welche Kleidung er heute morgen trug, aber der Mann weiß nichts. Er sagt mir immerhin so viel, daß sich an der Schule heute nichts Außergewöhnliches ereignet hätte: kein Unfall, kein Unterrichtsausfall, kein Ausflug. Gar nichts. Ein ganz normaler Tag. Auf der einen Seite bin ich froh, auf der anderen Seite schwindet jetzt jede Hoffnung auf einen Kinobesuch oder einen Schulausflug und damit auf eine plausible Erklärung für Florians langes Ausbleiben.
Trotzdem beruhigt mich das etwas. Es ist jetzt kurz vor fünf; ich gehe zum Auto zurück. Es muß eine ganz normale Erklärung dafür geben, warum er noch nicht zu Hause ist. Ich fahre langsam nach Hause zurück und bin mir sicher, daß er jetzt da ist. Ich zähle die Bäume auf den letzten zweihundert Metern. Wenn es weniger als zwanzig sind, dann ist Florian zu Hause. Es sind neunzehn. Das automatische Gartentor kriecht Zentimeter um Zentimeter zurück; mir ist noch nie aufgefallen, daß das Ding so lange braucht. Ich lasse den Wagen mit laufendem Motor in der Einfahrt stehen, renne mit klopfendem Herzen auf die Haustür zu, drehe den Schlüssel um und hoffe inständig, Florians Stimme zu hören. Er muß inzwischen nach Hause gekommen sein. Er muß, er muß, er muß.
Aber er ist nicht da. Im Haus ist es vollkommen ruhig. Ich renne mit fliegendem Mantel durch die Zimmer. Vielleicht ist er eingeschlafen, liegt krank oder bewußtlos irgendwo im Haus, hat sich verbrüht, verbrannt, verletzt. Ich laufe zweimal durch alle Räume, steige auf den Dachboden und durchsuche den Keller – nichts, niemand. Kein Florian. Ich gehe wieder hinaus und stelle den Motor ab, dann setze ich mich im Mantel auf die Couch und versuche, kühl und rational die Lage zu analysieren. Ich bin auf all diesen Management-Seminaren gewesen, ich weiß, wie man sich in Streßsituationen verhält, ich muß jetzt nur die Nerven bewahren, es gibt für alles eine plausible, vollkommen normale Erklärung: Florian ist bei einem Freund, achtet nicht auf die Uhr, oder die Eltern eines Freundes haben ihn zum Essen eingeladen, sie schauen sich irgendeinen Videofilm an, probieren neue Computerspiele aus, wahrscheinlich ist er schon auf dem Heimweg, und jeden Moment geht die Haustür auf und Florian steht vor mir. Ich bin einige Sekunden böse auf ihn, weil er mir einen solchen Schreck eingejagt hat, aber dann lache ich los, total erleichtert und erlöst, und dann erzähle ich ihm, welche Sorgen ich mir gemacht habe, er sagt mir, wo er gewesen ist, und dann lachen wir beide, und nach einer Stunde ist der ganze Zwischenfall vergessen. So wird es sein, sage ich mir immer wieder, so muß es sein, nichts, überhaupt nichts anderes kann passiert sein.
Ich zwinge mich zu Ruhe, aber je mehr ich um Fassung und Klarheit ringe, desto wirrer rasen die Gedanken durch mein Hirn. Die Theorie mit dem Freund kann nicht stimmen. Er hätte angerufen, er ist noch nie so lange von zu Hause weggeblieben, ohne anzurufen; Florian ist absolut verläßlich. Nein, es war anders: Er hat einen Unfall gehabt, vielleicht ganz was Harmloses, er ist vom Rad gestürzt, und irgend jemand hat ihn ins Krankenhaus gebracht, da wird er jetzt ambulant behandelt, und gleich wird es an der Haustür läuten, da steht er, die Mutter eines Freundes hat ihn im Auto gebracht. Aber nichts von all dem geschieht.
Ich hänge mich wieder ans Telefon. Kurz vor sechs
Weitere Kostenlose Bücher