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Die in der Hölle sind immer die anderen

Die in der Hölle sind immer die anderen

Titel: Die in der Hölle sind immer die anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Walker Jefferson
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erreiche ich Jonas, einen von Florians Freunden. Und dann, innerhalb von Sekunden, schlägt es den Boden aus meinem ganzen Leben. Von diesem Tag an ist alles anders. Dieser Tag ist der Anfang einer neuen Zeitrechnung für mich, von da an habe ich mein Leben in ein Vorher und ein Nachher unterteilt.
    „Florian“, sagt Jonas zu mir, „ist heute gar nicht in der Schule gewesen.“
    Ob er denn krank sei? Die Lehrerin hätte sich schon gewundert.
    Als ich den Hörer auflege, zittern mir die Hände. Noch wehrt sich mein Gehirn gegen das Ungeheuerliche, das Entsetzliche, das etwas tief in meinem Inneren bereits ahnt. Er ist nicht in der Schule gewesen - das heißt, daß er bereits seit heute morgen verschwunden ist.
    Mein Atem geht nun keuchend. Mir bricht der Schweiß auf dem Rücken aus. Ich vergesse von einer Minute auf die andere, was ich eigentlich tun wollte. Halt, ja, die Lehrerin, ich muß Florians Klassenlehrerin anrufen. Wie heißt die? Mir fällt der Name nicht ein. Irgend etwas mit Mann . Handmann? Hantsmann? Hantelmann? Hantermann? Mir fällt der Name einfach nicht ein. Ich rufe noch einmal Jonas an: Bantelmann . Wie kann man nur so einen blöden Namen haben! Natürlich, Bantelmann . Ich setze mich aufatmend aufs Sofa, so, als sei ich auch nur einen Schritt weitergekommen. Ich suche den Namen im Telefonbuch, aber er steht nicht drin. Nicht in Saarbrücken, nicht in Saarlouis, nicht in Homburg, nicht in Völklingen. Wieso steht die nicht im Telefonbuch? Wo wohnt diese Ziege mit ihren Raffzähnen denn? Auch die Auskunft kennt keine Frau Bantelmann.
    Um halb sieben rufe ich alle Krankenhäuser in Saarbrücken und Umgebung an. Aber nirgendwo wurde heute ein neunjähriger Junge eingeliefert, kein Unfallopfer, niemand, der Florian Weigandt heißt. Es wurde auch kein Neunjähriger aus einem Krankenhaus entlassen, noch ist einer darin gestorben.
    Auf der einen Seite beruhigt mich das: Er liegt also nicht schwer verletzt in einem Krankenhaus. Auf der anderen Seite peinigt es mich noch mehr: Er ist also ganz woanders, irgendwo da draußen, nicht in der Obhut von Ärzten und Schwestern, vielleicht ganz allein, krank und verletzt. Als mir die letzte Frau am Telefon sagt, daß sie seit Tagen keinen Jungen in Florians Alter aufgenommen hätten, heule ich plötzlich los. Ich kann nicht mehr; ich erzähle ihr meinen Kummer: Es ist jetzt sieben Uhr abends, und mein Sohn ist immer noch nicht zu Hause. Er war nicht in der Schule, und in den Krankenhäusern rund um Saarbrücken ist er auch nicht. Wo ist er nur? Was soll ich tun?
    Die Frau am Telefon beruhigt mich und erklärt mir, daß sich bald alles aufklären werde, jeden Tag würden Leute wie ich im Krankenhaus anrufen, kaum jemals seien das ernste Angelegenheiten, immer würden die Kinder wieder gefunden werden, für alles gäbe es eine Erklärung, das sei ihre Erfahrung. Einen Moment beruhigt mich das auch. Ich gehe an unsere Hausbar und schenke mir ein Wasserglas voll mit Portwein.
    Ausgerechnet heute ist Michael nicht da. Zum ersten Mal seit Jahren sehne ich mich mit aller Macht nach ihm. Gleichzeitig habe ich Angst vor ihm. Er wird mir die Schuld geben. Ich kenne ihn. Er wird sich morgen ins Flugzeug setzen, nach Hause kommen und mir die Hölle heiß machen. Nur hat er dieses Mal einen guten Grund: Florian ist weg. Ich rufe ihn trotzdem an. Irgendwann muß ich es ihm sowieso sagen, und ich brauche jetzt jemanden, mit dem ich reden kann. Ich wähle die Durchwahl seines Hotelzimmers. Er nimmt sofort ab. Er will etwas Nettes sagen, er klingt müde, aber zufrieden, offenbar sind seine Verhandlungen gut gelaufen. Ich habe keinen Nerv, jetzt noch zehn Minuten Konversation zu machen, ich sage es also sofort: „Florian ist noch nicht nach Hause gekommen.“ Er begreift es nicht gleich.
    „Wieso? War er denn nachmittags weg?“
    „Nein, von der Schule, er ist noch nicht von der Schule nach Hause zurück.“
    Er überlegt einen Moment. Er weiß das Schlimmste noch nicht. Ich muß es ihm sagen.
    „Jonas sagt, er sei heute morgen gar nicht zum Unterricht gekommen.“
    „Ja, hast du ihn denn nicht in die Schule gebracht?“
    „Er ist mit dem Rad gefahren.“
    „Mit dem Rad? Jetzt? Im Oktober?“
    „Es war ganz warm und …“
    „Ingrid, wenn du ihn in die Schule gefahren hättest, dann wüßten wir jetzt wenigstens, daß er da angekommen ist.“
    Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
    „Heißt das, daß Florian seit heute morgen abgängig ist? Seit er das Haus verlassen

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