Die in der Hölle sind immer die anderen
hat?“
„So sieht es aus, ja.“
Ich bin wie gelähmt und halte nur noch schweigend den Hörer. Michael regt sich jetzt auf. Er stellt seine vielen Fragen, wie immer. Ich kann nicht mehr an mich halten und heule los. Es schüttelt mich nur so vor Weinen. Ich kann gar nicht mehr aufhören. Michael schweigt plötzlich und hört mir stumm zu, als ich minutenlang in den Hörer weine. Als ich mich schneuze, spricht er leise, stellt Fragen, sachlich, beruhigend, tröstend. Ich erzähle ihm den Ablauf des ganzen Tages. Er weiß, daß Frau Bantelmann in Forbach wohnt, in Frankreich. Selbst in einem solchen Moment kann er mich noch überraschen. Als ich meine Erzählung mit den vergeblichen Anrufen bei den Krankenhäusern beende, sagt er nur: „Gut, ruf sofort die Polizei an und melde ihn als vermißt.“
Daran habe ich natürlich auch gedacht, aber etwas in mir will nicht, daß ich ihn als vermißt melde.
„Wenn ich das tue“, sage ich zu Michael, „dann bedeutet das vielleicht, daß er wirklich verschwunden ist.“
„Ingrid, das bedeutet es auch, wenn du jetzt nicht bei der Polizei anrufst.“
Ja, richtig. Das ist typisch Michael, selbst in einer solchen Situation verläßt ihn sein gesunder Menschenverstand nicht. Wir reden noch zehn Minuten hin und her, kommen aber zu keinem anderen Ergebnis als dem, daß ich sofort die Polizei verständigen soll.
„Ich komme so schnell ich kann“, sagt er noch, als ich auflege. Ich bin zu müde und zu durcheinander, um zu begreifen, was er damit meint.
Ich trinke noch ein Glas Wein, dann rufe ich die Polizei an. Der erste Polizist, mit dem ich spreche, sitzt in der Telefonzentrale und muß mich weitervermitteln. Das gelingt nicht, und ich fliege aus der Leitung. Ich rufe nochmal an und habe denselben Polizisten wieder dran. Mit dem will ich nicht mehr reden. Auf mein Drängen holt er einen Kollegen ans Telefon. „Vermißtenanzeigen nur persönlich“, sagt der, „morgen früh ab zehn.“
Ich erkläre ihm, daß unser neunjähriger Sohn seit heute morgen abgängig ist.
„Der kommt wieder“, sagt er mit größter Ruhe, „die meisten Kinder tauchen ganz von selber wieder auf.“ Ich solle mir keine Sorgen machen.
Jetzt reicht es mir. Ich stecke ein großes, gerahmtes Bild von Florian in die Handtasche und fahre auf das Präsidium. Das Gespräch mit dem Beamten wird eine Tortur. Er hat noch nie eine Vermißtenanzeige aufgenommen. Der, der das sonst bearbeitet, kommt erst morgen wieder. Ich bin keine Polizeibeamtin, erkläre ich ihm, aber so schwer könne das ja nicht sein. Er spannt schließlich ein graues Formular in eine Schreibmaschine ein, fängt mit zwei Fingern zu tippen an und stellt Fragen: Name? Adresse? Geburtsdatum? Verwandtschaftsgrad? Seit wann vermißt? Wo vermißt?
„Wo?“ wiederhole ich. „Weiß ich nicht. Ich weiß nicht, wo vermißt.“
„Das muß aber da rein“, sagt er, „hier steht wo.“
Er zieht das Blatt wieder aus der Schreibmaschine, stellt fest, daß er kein Kohlepapier mit eingespannt hat, spannt ein neues Formular ein und beginnt mit den Fragen von vorne. Als wir fertig sind, ist es kurz vor neun.
Der Polizist gibt mir Florians Foto wieder mit: „Wir können doch jetzt nicht nach ihm suchen.“
Im Auto sitzend beschließe ich, zu Michaels Eltern nach Völklingen zu fahren. Ich brauche jetzt Hilfe, Trost, einen Menschen zum Reden, Verständnis. Als ich durch die Wohnungstür trete, weiß ich, daß meine Schwiegereltern die falschen Menschen zum Reden sind. Michaels Mutter steht mit einer geblümten Schürze hinter ihrem Mann und sieht über seine Schulter fern. Einen Augenblick habe ich die Hoffnung, daß Florian bei ihnen ist, obwohl er seine Großeltern nicht mag. Aber er ist nicht da. Michaels Mutter fängt mit ihrer hohen Stimme sofort zu schreien an, als ich ihr sage, daß Florian seit heute morgen verschwunden ist. „Der ist bestimmt bei einem ins Auto gestiegen, man liest ja so viel heute“, kreischt sie von der Spüle her. Michaels dicker Vater mit seinem roten Gesicht dreht sich langsam um.
„Ihr habt den Florian viel zu sehr verwöhnt“, sagt er. „Das hab ich dem Michael immer schon gesagt. Der mußte doch nie ins Bett. Das kommt davon. Und jetzt in dem Alter bleibt er schon die ganz Nacht fort, wir werden ja sehen, wo das noch endet.“
Ich könnte schreien, ich könnte sie beide erschlagen in diesem Moment. Aber ich tue nichts, ich stehe auf und gehe einfach zur Tür hinaus. „Ingrid“, höre ich meine
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