Die in der Hölle sind immer die anderen
Schwiegermutter hinter mir durch das dunkle Treppenhaus rufen, als ich nach unten renne, „Ingrid!“
Mein Herz klopft wie verrückt, als ich in die Straße zu unserem Haus einbiege. „Bitte“, sage ich laut im Auto, „lieber Gott, bitte laß ihn jetzt zu Hause sein.“
Ich fahre ganz langsam die Straße hinauf. Ich hoffe, hoffe, hoffe, daß Licht im Haus brennt. Irgend jemand hat ihn mittlerweile zurückgebracht, denke ich mir, ein freundlicher Mensch, der ihn aufgelesen hat, die Polizei oder ein Nachbar, und jetzt sitzt er mit Florian im Wohnzimmer. Aber das Haus ist stockfinster.
Ich traue mich nicht, die Spätnachrichten einzuschalten. Mein Gehirn malt sich die furchtbarsten Nachrichten aus: Saarbrücken. Heute, kurz nach Einbruch der Dämmerung, fanden Polizeibeamte am Straßenrand die Leiche eines Jungen .
Aber dann sie hätten mich ja angerufen, ich habe ihn doch als vermißt gemeldet. Mein Gehirn klammert sich nun an jeden Strohhalm, den es finden kann. Um Mitternacht höre ich die Nachrichten im Radio: keine Rede von einem toten Jungen. Etwas Hoffnung keimt wieder in mir. Ich lege mich mit dem festen Gedanken ins Bett, daß Florian lebt. Morgen wird er wieder zu Hause sein.
Kapitel 9
„Wie sind Sie überhaupt an meine Adresse und meine Telefonnummer gekommen? Ich steh doch in keinem Telefonbuch.“
„Die hat mir deine Mutter gegeben.“
Nicolai starrt den andern an.
„Meine Mutter hat Ihnen meine Adresse gegeben?“
„Ich hab’ sie angerufen, mich als Literaturkritiker vorgestellt und ihr erzählt, daß ich ihren berühmten Sohn, den großen Schriftsteller, interviewen möchte. Und da hat sie mir bereitwillig deine Adresse gegeben.“
Weigandt trinkt den letzten Schluck Kaffee aus dem Becher und schraubt die Thermosflasche wieder zu.
„Ich habe dreimal mit deiner Mutter telefoniert, einmal eine ganze Stunde lang.“
„Wie kommt meine Mutter dazu, mit Ihnen zu reden? Was haben Sie ihr denn noch erzählt, daß sie ...“
Weigandt nimmt die Reitpeitsche vom Tisch. Mit einem pfeifenden Geräusch saust die geflochtene Lederquaste auf Nicolais Wange hernieder. Noch im selben Moment schreit Nicolai auf. Weigandt greift nach der Fernbedienung des Fernsehers und stellt den Ton lauter. Dann tritt er auf Nicolai zu und holt wieder mit der Peitsche zum Schlag aus. Nicolai versucht, seinen Kopf mit den gefesselten Händen zu schützen, aber der Schlag mit der Peitsche geht ins Leere. Weigandt wartet so lange, bis der andere seine Hände wieder vom Kopf genommen hat. Auf Nicolais Wange ist eine Schramme von der Größe und der Farbe einer dunklen Rosenknospe entstanden. Ein dünner Faden hellen Blutes rinnt von der Wunde über die Wange bis zum Kinn. Weigandt zieht die Pistole aus dem Holster. Er richtet den Lauf auf Nicolais rechtes Auge und schiebt das schwarze Mündungsloch Zentimeter um Zentimeter an das Auge heran, bis die Mündung das geschlossene Lid erreicht. Das Schnappen des Schlittens ist zu hören, der vor und zurückgezogen wird. Weigandt geht mit seinem Kopf so nahe an Nicolais verzerrtes Gesicht heran, bis ihn nur noch die Länge des Pistolenlaufs von Nicolais Wange trennt. Als Weigandt wieder spricht, klingt seine Stimme leise und monoton.
„Ich bin gekommen, um dir Fragen zu stellen und nicht umgekehrt.“
Aus Nicolais geschlossenem Auge tropfen die Tränen.
„Hast du mich verstanden?“
Nicolai nickt so gut, wie er das mit der Pistolenmündung an seinem Kopf kann.
„Gut, dann werden wir jetzt anfangen.“
„Ich brauche was für mein Gesicht.“
Aus der tiefen, sternförmigen Verletzung auf Nicolais Wange dringt immer mehr Blut in pulsierenden Stößen.
„Hast du was zum Verbinden?“
„Oben, im Bad.“
Weigandt geht in den ersten Stock hinauf und tastet nach dem Lichtschalter im Bad. Er kommt mit einem Streifen Wundpflaster wieder zurück, tupft die Wange mit einem Taschentuch ab und klebt ein Pflaster über die Wunde. Dann nimmt er eine Tasse aus der Geschirrvitrine und gießt Nicolai Kaffee aus der Thermosflasche ein.
„Können Sie mir nicht die Handschellen abnehmen?“
Weigandt schüttelt den Kopf, aber er hilft Nicolai dabei, sich aufzusetzen.
Weigandt beobachtet den anderen, wie der die Tasse in kleinen Schlucken austrinkt. Zehn Jahre hat er darauf gewartet, dem Mörder seines Sohnes in die Augen zu sehen und von ihm etwas über die letzten Stunden in Florians Leben zu erfahren. Als er Nicolai im Gerichtssaal zum letzten Mal
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