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Die in der Hölle sind immer die anderen

Die in der Hölle sind immer die anderen

Titel: Die in der Hölle sind immer die anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Walker Jefferson
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Bundesgrenzschutz eingesetzt, Tornados mit Wärmebildkameras donnerten im Tiefflug über Saarbrücken, Taucher vom Technischen Hilfswerk suchten die Saar, ihre Nebenarme und Zuflüsse Meter für Meter ab. Nach fünf Tagen wurde die Suche eingestellt. Die Polizisten hatten nichts gefunden; nicht den kleinsten Hinweis.
    Neunjähriger Junge auf dem Weg zur Schule spurlos verschwunden titelten die Saarbrücker Nachrichten. Die Bildzeitung brachte Florians Bild ebenfalls auf der ersten Seite, sogar im Farbdruck. Wir hatten keine Ahnung von dem, was nun kommen sollte. Unser Telefon stand nicht mehr still. Unser Haus wurde von Reportern belagert, die Übertragungswagen von Fernsehen und Rundfunk blockierten unsere Einfahrt; sogar aus Frankreich und Luxemburg waren welche gekommen. Ein Fotograf von der Bildzeitung brachte meine Mutter, die ihre hilfsbereite Ader entdeckt hatte und sich um uns kümmern wollte, dazu, ihm die Tür aufzumachen und ihm das ganze Haus zu zeigen.
    Millionärs-Ehepaar sorgt sich um verschwundenen Sohn stand am nächsten Tag in der Bild am Sonntag. Sie hatten nichts ausgelassen: nicht Michaels Siebener BMW, nicht unser Bad mit Whirlpool, nicht unsere große Terrasse, noch meinen Zweisitzer-Mercedes. Nichts schadete uns in dieser Zeit so sehr wie dieser Artikel voll geheuchelten Mitgefühls. Wir sind nie Millionäre gewesen, aber viele Menschen glaubten es nur allzu gerne und haßten uns allein deshalb.
    In einer Woche erhielten wir Hunderte von Briefen, in denen angekündigt wurde, daß wir Florian gegen die Bezahlung teils lächerlicher, teils astronomischer Summen wiederbekämen. Wir erhielten Briefe, in denen Wünschelrutengänger, Wahrsager und Kartenleger für viel Geld anboten, uns zu sagen, wo Florian sich aufhielt. Und dann gab es noch die Briefe, in denen Menschen von ihrer Freude darüber erzählten, daß Florian mißbraucht, zerstückelt und verbrannt worden sei und seine Leiche in Wäldern, Kellern oder Verliesen lag und dies Gottes gerechte Strafe für unsere Sünden, unsere Prasserei und unser gottloses Leben sei.
    Unser Leben implodierte von einem auf den anderen Tag. Wir schliefen nicht mehr, aßen nichts, tranken nichts.
    Der erste brauchbare Hinweis kam genau zwei Wochen, nachdem die Polizei die Suche endgültig einstellt hatte. Ein Mann hatte Florians blaues Rad gefunden. Es lag fünfhundert Meter von unserem Haus entfernt in einem parkartigen Grundstück hinter einer Villa. Nur bis dahin war er also gekommen. Das Dreirad war beschädigt. Der Lack war abgeschürft, Schutzbleche und Räder verbogen und die Reifen platt. Dieser Fund brachte die Ermittlungen der Kriminalpolizei endlich ins Laufen. Die Sonderkommission Dreirad wurde gegründet, und zu ihrem Leiter wurde Polizeihauptkommissar Christian Schirra ernannt.
    Heute weiß ich, daß ohne Schirra Florians Mörder nie gefunden worden wäre. Schirra ist ein sturer, aber intelligenter Kriminalpolizist, der, wie die meisten Saarländer, viel ißt, viel trinkt und immer einen kennt, der wieder einen kennt. Aber anders als die meisten Saarländer redet er nicht viel, ist die ganze Zeit am Tüfteln und Nachdenken und läßt sich dabei nie in die Karten schauen. Und so ganz nebenbei ist er auch noch, wie wir nach und nach feststellten, ein knallharter Hund, auch wenn man ihm das nie ansehen würde.
    Als er jedoch zum ersten Mal in einer alten Lederjacke und Hochwasserhosen vor unserer Tür stand, da dachte ich mir: Was haben wir denn da wieder für eine Niete gezogen? Er war damals Ende Vierzig, einen Kopf kleiner als ich, seinen kahlen, roten Schädel umrandete ein Ring kurzer, graubrauner Haare. Er schob einen kleinen Kugelbauch vor sich her und trug am liebsten Tennissocken zu orangefarbenen Hemden und blauen Anzugshosen. Als er zum ersten Mal in unserem Wohnzimmer saß und Michael ihm sehr zeremoniell etwas zu trinken anbot, sagte er mit dem leisen, fast schüchternen Lächeln, das wir später noch oft an ihm sehen würden: „Dieses Getue können Sie sich schenken. Ich stamme aus Burbach und bin ohne Manieren auch etwas geworden.“
    Bis zu diesem Zeitpunkt hatten Michael und ich uns gebetsmühlenhaft versichert: Florian ist am Leben. Vielleicht liegt er irgendwo verletzt oder bewußtlos in einem Krankenhaus, vielleicht hat ihn jemand mitgenommen oder entführt, so etwas hört man immer wieder, da ist er jetzt noch in einem Keller oder einem einsamen Haus eingesperrt, aber irgendwann taucht er wieder auf, die Polizei findet ihn,

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