Die in der Hölle sind immer die anderen
oder er befreit er sich selbst, trifft auf freundliche, hilfsbereite Menschen, und die liefern ihn bei uns ab.
Aber als Schirra und sein Assistent Delanque uns besuchten, als beide ihre Notizbücher herauszogen, das Diktiergerät anstellten und Schirra mit seiner ruhigen Stimme jede Einzelheit mit uns durchging und all die Fragen stellte, die nur in eine Richtung gingen: was kann geschehen und wer der Täter sein, da kam ich nach und nach zu der Erkenntnis: Florian wird nie mehr heimkommen, Florian ist tot, mein Leben wird nie mehr das sein, was es einmal gewesen war. Von jetzt an wird alles anders sein.
Florians Bild war in den kommenden Wochen auf Plakaten, Flugzetteln, in Zeitungen und im Fernsehen zu sehen. Die Polizei setzte eine Belohnung von zehntausend Mark für sachdienliche Hinweise aus, die wir auf hunderttausend Mark erhöhten. Es gingen Hunderte von Hinweisen ein, aber keine brauchbaren. Florian war wie vom Erdboden verschwunden. Obwohl wir mit Christian Schirra in täglichem Kontakt standen, obwohl die Soko über tausend Spuren nachging und die Mordkommission alle Menschen in unserem Umfeld, die jemals mit Florian Kontakt gehabt hatten, befragte, hatten Michael und ich das Gefühl, daß die Polizei zu wenig unternahm. Ich weiß heute, daß wir Schirra und seinen Kollegen unrecht taten. Die Polizei konnte uns nicht in alle ihre Schritte einweihen. Damals jedoch waren wir überzeugt, nun selbst handeln zu müssen. Wir ließen hunderttausend Suchplakate und Handzettel mit Florians Bild drucken. Die Zettel verteilten wir zusammen mit freiwilligen Helfern an den Grenzübergängen nach Frankreich, an Bahnhöfen und Bushaltestellen. Unsere Plakate hingen in Bäckereien, Apotheken, Schulen, Rathäusern und Banken im ganzen Saarland, in Rheinland-Pfalz, im Elsaß, in Lothringen. Aber es kam kein einziger brauchbarer Hinweis. Der November kam und verging, aber die Untersuchungen gelangten keinen Schritt voran. Florian war nun seit sechs Wochen vermißt. Anfang Dezember kam die Nachricht vom Bundeskriminalamt, daß Spuren eines dunkelblauen Autolackes an Florians Dreirad gefunden worden waren. Der Autolack war von einem Zulieferer von Opel produziert worden. Jetzt mußte nur noch der genaue Typ festgestellt werden, das aber konnte Wochen dauern. Unser erstes Weihnachten ohne Florian stand uns bevor.
Der einundzwanzigste Dezember 1992 war ein Montag. Irgendwann am Nachmittag, es war schon dunkel, klingelte es an der Tür. Es war Christian Schirra. Er trug einen dieser Salz-und-Pfeffer-Wintermäntel und stand mit einer Plastiktüte vor der Tür. Er würde gerne mit uns reden und hätte uns Punsch mitgebracht. Aber bis ich den Punsch aufgewärmt hatte, sagte er kaum ein Wort. Als wir alle eine Tasse des süßlichen Getränkes in der Hand hielten, begann er von den Wintern zu erzählen, die er bei seinen Großeltern in Frankreich verbracht hatte. Er erzählte weitschweifig belangloses Zeug. Sein gerötetes Gesicht und seine faltigen Tränensäcke ließen ihn alt und müde aussehen. Und dann trat das leise, verlegene Lächeln auf Christian Schirras Gesicht, ein Lächeln, das wir noch oft an ihm sehen sollten, das an diesem Tag jedoch kein Lächeln mehr war, sondern ein verzogenes, trauriges Grinsen.
„Ich muß Ihnen jetzt etwas sagen und Sie bitten, sehr stark zu sein.“
Ich sah zu Michael hinüber, der sich in seinem Sessel plötzlich aufrichtete. Ich krallte meine Finger in die Sessellehnen und hielt die Luft an. Ich hätte Schirra anschreien können: So sagen Sie es doch endlich . Aber ich blieb stumm.
„Man hat einen Jungen gefunden“, sagte Schirra schließlich. Er stand auf, trat ans Fenster, zog die Vorhänge zurück und blickte hinaus, als ob es in unserem stockdunklen Garten etwas Hochinteressantes zu sehen gäbe. Dabei steckte er die Hände in die Hosentaschen und schwieg lange.
„Ist es Florian? Wie geht es ihm?“ hörte ich Michael fragen. Was für eine blöde Frage, dachte ich, aber dann bemerkte ich, daß Michael die Tränen über die Wangen hinabliefen.
„Spaziergänger“, sagte Schirra, „haben am Sonntag die Leiche eines Jungen in einem Wald bei St. Ingbert gefunden.“
Kapitel 11
„Ich will die ganze Geschichte wissen. Von Anfang an.“
Nicolai sieht Weigandt an.
„Sind Sie sicher, daß Sie wirklich alles von mir hören wollen? Ich müßte Ihnen Dinge erzählen, die Ihnen sehr wehtun würden. Daran sollte man nie wieder rühren. Ich will das alles vergessen.
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