Die in der Hölle sind immer die anderen
Für mich ist das vorbei.“
Weigandt blickt an Nicolai vorbei in die dunklere Hälfte des Wohnzimmers hinein. Im Fernseher läuft eine dieser Shows, in denen zwanzig oder dreißig Vollidioten in einen Stall mit Kühen, Ziegen und Schweinen gepfercht werden und der gewinnt, der es in dem Dreck und dem Gestank am längsten aushält.
„Das, was du vergessen willst, ist einmal mein ganzes Leben gewesen.“
Weigandt stützt sich mit dem Fuß auf den Heizkörper, an dem Nicolai immer noch hängt. Nicolais Augen sind fast vollkommen zugeschwollen. Die Wunde auf seiner Wange ist mit dunklem Blut überkrustet. Seine Nasenspitze zeigt nach links, ein Höcker auf der Nase ist feuerrot, die Nasenflügel sind weißlich und ebenfalls mit Ringen von schwarzem Blut verklebt. Sein Hals weist blau-rote Würgemale auf, der Adamsapfel tritt stark hervor.
„Nein“, sagt Weigandt, „wenn du morgen noch leben willst, dann wirst du mir alles erzählen müssen.“
„Kann ich mich umziehen, bevor wir anfangen? Ich kann nicht die ganze Nacht in meiner und Ihrer Pisse sitzen. Und essen muß ich auch mal was.“
„Und danach hättest du noch gerne einen schönen Latte Macchiato, nehme ich an?“
Nicolai streckt seine Hände nach oben.
„Nehmen Sie mir die Handschellen ab. Ich kann mich so nicht umziehen.“
Weigandt ignoriert ihn. Er geht in das Schlafzimmer hinauf und zieht ein frisches Hemd, eine Hose und Unterwäsche unter dem umgestürzten Schrank hervor. Dann nimmt er aus dem Bad einen Waschlappen und ein Handtuch mit und geht wieder ins Wohnzimmer hinunter. Er wirft die Sachen vor Nicolai auf den Boden.
„Ich will duschen und was anderes anziehen. Sie müssen mir die Handschellen ...“
„Ich muß gar nichts. Du ziehst an, was da liegt. Du kannst dich mit dem Waschlappen abreiben.“
Weigandt nimmt Nicolai die Handschellen ab. Er läßt ihn keinen Moment aus den Augen, als dieser Pullover, Hemd und Unterhemd auszieht, sich den Oberkörper mit dem Waschlappen abreibt und dann die frischen Sachen überzieht.
„Und wie soll ich die Hose ausziehen mit diesem verdammten Kabelbinder um die Knöchel?“
Weigandt schneidet ihm den Kabelbinder von den Füßen. Als Nicolai an Händen und Füßen frei ist, dreht ihm Weigandt eine Sekunde lang den Rücken zu. Das nächste, was er spürt, ist ein Schlag auf seinen Hinterkopf, dann wird es schwarz vor seinen Augen. Als er die Augen wieder aufmacht, brennen Gesicht und Hände, als wäre er in eine Qualle geschwommen. Nicolai hat ihm den Kaktus von der Fensterbank ins Gesicht geschleudert. Weigandt sieht nur graue Schemen, als ihn der zweite Schlag erwischt. Er taumelt zurück und fällt mit dem Rücken in die Geschirrvitrine. Glas splittert, die Vitrine gibt nach und das Oberteil kippt seitlich weg. Weigandt reißt die Augen mit aller Macht auf und sieht, daß Nicolai nach dem Baseballschläger greift, ihn mit beiden Händen über seinen Kopf hebt und zuschlägt. Er duckt sich ungeschickt nach rechts weg, und der Schläger, der sonst seinen Kopf getroffen hätte, trifft seine linke Schulter. Ein elektrisierender Schmerz fährt ihm wie ein glühender Draht durch Schulter und Rücken. Nicolai zieht den Schläger sofort wieder zurück und holt zum nächsten Schlag aus. Einen Sekundenbruchteil lang verharrt der Schläger über Nicolais Kopf. Weigandt wirft sich von der Vitrine weg in die Mitte des Raumes zum Sofa hin. Der Baseballschläger fährt mit Wucht in das, was von der Vitrine noch übrig ist. Nicolai dreht sich zur Raummitte. Mit der rechten Hand faßt er den Baseballschläger, mit der Linken bildet er einen Schirm über seiner Stirn, um gegen das Licht der Stehlampe sehen zu können. Er richtet sich langsam auf, aber er sieht den anderen nicht. Weigandt ist verschwunden.
Langsam tappt er drei Schritte vorwärts in Richtung auf die Wohnzimmertür. Nicolai versucht an den Geräuschen im Haus zu erkennen, wo sich Weigandt befindet, aber er hört nur den Fernseher. Er geht langsam und geduckt an der Wand entlang zur Tür und hält dabei den Baseballschläger zum Zuschlagen bereit vor sich. Mit dem Rücken am Türrahmen schiebt er sich durch die Türöffnung und tritt mit seinen feuchten Socken auf die kühlen Fliesen im Flur. Weigandt ist nirgendwo zu sehen.
***
Vorsichtig öffnet Nicolai die Tür zum Gäste-WC. Der kleine Raum ist leer. Er durchsucht das ganze Haus vom Keller bis zum Dachboden: von Weigandt fehlt jede Spur. Er will die Haustür abschließen, als ihm etwas
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