Die in der Hölle sind immer die anderen
seit meiner Kindheit nicht mehr gebetet. Ich flehe Gott an, Florian am Leben zu lassen. Ich verspreche Opfer über Opfer, ich werde viel Geld spenden, ein Heiligenbild stiften, ein Patenkind in der Dritten Welt annehmen, nie wieder sündigen, wieder in die Kirche eintreten. Alles, alles werde ich tun – wenn nur Florian wieder heimkommt. Ich liege im Bett, erstarrt in Schmerz und Verzweiflung. Als ich einschlafe, dringt bereits die Dämmerung durch die Vorhänge. Kurz danach schrecke ich wieder aus dem Schlaf hoch. Ich höre das Schlagen von Autotüren, Schritte auf dem Pflaster vor dem Haus, dann dreht sich ein Schlüssel in der Tür. Als ich die Treppe hinunter gehe, steht Michael im Windfang vor der Garderobe. Er hat sich ein Auto gemietet und ist die ganze Nacht gefahren. Selten bin ich so froh gewesen, ihn zu sehen, wie jetzt.
Ich koche Kaffee. Wir sitzen am Küchentisch und gehen den vorigen Tag seit Florians Verschwinden Stunde für Stunde durch. Wir denken nach, reden, überlegen, schreien uns an, beruhigen uns wieder, aber wir kommen zu keinem Ergebnis. Wir wissen beide nicht, wo Florian sein kann und warum er verschwunden ist.
„Wir müssen schnellstens mit der Polizei reden“, sagt Michael.
Um acht Uhr sind wir auf dem Präsidium. Heute redet Michael. Wir sprechen mit einem Polizeihauptwachtmeister. Er holt sich die Vermißtenanzeige und läßt uns immerhin ausreden. Aber er bringt dieselben Argumente wie sein Kollege vom Vortag: Es komme praktisch jeden Tag vor, daß ein Kind von zu Hause weglaufe, häufig - und dabei schaut uns der Beamte einen Augenblick lang scharf an - nach einem Streit mit seinen Eltern, aber die Kinder kämen alle wieder. Natürlich, das könne ein paar Tage dauern, manchmal auch eine Woche, aber wiederkommen würden sie. Wir sollten uns nicht so viele Sorgen machen.
„Nein“, sagt Michael, „bei uns ist das nicht so, wir haben ein behindertes Kind, verstehen Sie, unser Junge ist gehbehindert. Es gab keinen Streit, wir haben das beste Verhältnis zu unserem Sohn, Florian würde nie auch nur zwei Stunden von zu Hause wegbleiben, ohne Bescheid zu sagen. Sie müssen eine Fahndung einleiten, Sie müssen die Gegend absuchen, den Schulweg, die Umgebung.“
„Was wir müssen und was nicht“, sagt der Polizist, „das wissen wir schon selber.“
Wir reden zu zweit eine halbe Stunde auf ihn ein, aber wir kommen keinen Schritt weiter. Erst wenn Florian heute abend nicht aufgetaucht ist, kann er als vermißt gemeldet werden. Die Suche kann dann am nächsten Tag beginnen, aber wir müssen bis zum Abend warten, weil das in irgendeiner Verordnung so steht und für uns natürlich keine Ausnahme gemacht werden kann. Und diesen Scheißstaat, dessen Vertreter sich jetzt weigern, nach unserem Kind zu fahnden, habe ich einmal für gut, zivilisiert und sozial gehalten. Als Michael dem Polizisten mit Dienstaufsichtsbeschwerden und juristischen Konsequenzen droht, ziehe ich ihn aus dem Dienstzimmer hinaus. Es ist sinnlos.
Dann stehen wir in unseren Sonntagsmänteln vor dem Polizeigebäude im Nieselregen und wissen nicht, was wir tun sollen. Michaels Gesicht ist grau wie Packpapier. Faltige Tränensäcke hängen unter seinen Augen, sein unrasiertes Kinn sieht schmutzig aus. Ich stelle das fest und denke mir gleichzeitig: du siehst wahrscheinlich auch nicht besser aus. Im Auto beschließen wir, Michaels Schulweg abzugehen. Wir brauchen eine Stunde für die zwei Kilometer, aber wir finden nichts. In der Schule fragen wir nach Frau Bantelmann. Die ist da, aber sie gibt gerade Unterricht. Wir warten eine qualvolle halbe Stunde, dann kommt sie. Sie sieht uns erstaunt an. Sie weiß von nichts.
„Ich dachte, Florian wäre krank. Er ist ja gestern auch nicht zur Schule gekommen.“
Es stimmt also. Er ist seit mehr als vierundzwanzig Stunden abgängig. Warum sie uns nicht angerufen hat? Aber sie könne doch nicht alle Eltern anrufen, wenn ihre Kinder nicht zur Schule kämen, da wäre sie ja nur noch mit Anrufen beschäftigt, das müßten wir doch verstehen.
Wir reden, so lange sie Zeit hat, doch auch hier kommt nichts dabei heraus. Florian hatte mit niemandem Streit, keiner hat ihn bedroht, so etwas wüßte sie, jeder mochte Florian, es ist alles in Ordnung. Und wir sollten uns nicht aufregen. Er würde sicher bald auftauchen. Es gibt für alles eine Erklärung.
Als wir aus der Schule herauskommen, ist es Mittag. Wir beschließen, auf eigene Faust nach Florian zu suchen. Ich warte, bis Tim und
Weitere Kostenlose Bücher