Die in der Hölle sind immer die anderen
Jonas, Florians beste Freunde, aus der Schule herauskommen. Aber die beiden wissen auch nichts. Michael fährt mittlerweile im Schrittempo durch St. Arnual und durch das Klinikviertel und sucht nach Florian. Auch er findet nichts. Ich fahre ziellos durch Saarbrücken und halte Ausschau, suche Bushaltestellen, leere Grundstücke, Wiesen, Parkhäuser, Unterführungen, öffentliche Toiletten, Parks, Baustellen und den Bahnhof ab, gehe durch Straßen und Viertel, wo ich noch nie gewesen bin. Jedem Kind, das ich sehe, schaue ich ins Gesicht, immer in der Hoffnung, Florians roten Schopf und sein Gesicht mit den Sommersprossen zu sehen, plötzlich seine helle Stimme zu hören. Ich weiß tief drin, daß dieses Herumfahren nichts bringt, aber ich kann jetzt nicht zu Hause sitzen und darauf warten, daß das Telefon klingelt, ich muß etwas tun, irgend etwas, und wenn es noch so sinnlos ist.
Um vier bin ich so verzweifelt, daß ich wieder nach Hause fahre. Auf den letzten Metern überwältigt mich eine irrsinnige Zuversicht: Florian ist in der Zwischenzeit nach Hause gekommen, ich spüre es, ich weiß es. Und tatsächlich: die Haustür ist nur angelehnt. Ich stoße sie auf und schreie ins Haus mit schrill vibrierender Freude in meiner Stimme: „Florian, Flo, Florian, wo bist du?“
Unsere Putzfrau kommt die Treppe herab und sieht mich erschrocken an.
Ich kann nicht mehr. Zum ersten Mal in meinem Leben kann ich nicht mehr. Nicht die Trennung meiner Eltern, kein Streit mit meiner Mutter, keine Auseinandersetzung im Beruf hat mich je so fertiggemacht wie diese Ungewißheit. Mein Leben lang habe ich gelernt, daß ich mich zusammenreißen soll, daß ich mich beherrschen und hart gegen mich selbst sein muß. Aber jetzt ist es vorbei damit. Ich gehe ins Schlafzimmer hinauf und werfe mich aufs Bett. Ich stehe wieder auf und lasse die Rolläden herunter. In der Dunkelheit starre ich an unsere edle Eichendecke, die ich jetzt in fünf Minuten verfeuern würde, wenn nur Florian wieder da wäre. Ich schäme mich vor unserer Putzfrau, aber ich kann mein Schluchzen nicht unterdrücken; je mehr ich es zurückhalten will, desto lauter heule ich.
Irgendwann steht Michael in der Tür: „Wir müssen nochmal zur Polizei fahren.“
Die Polizei leitet endlich eine Suche ein. Florians Bild geht an alle deutschen Polizei-Dienststellen, an das Bundeskriminalamt und die Landeskriminalämter hinaus. Wir stimmen zu, daß das Foto auch an die Presse geht. Es ist bereits dunkel, als wir das Polizeipräsidium verlassen. Morgen wird die Suche endlich beginnen.
Als wir zu Hause sind, gehen wir gemeinsam in Florians Zimmer. Alles liegt noch so da, wie er es gestern morgen verlassen hat. Die Putzfrau hat das Bett gemacht und den Boden gesaugt, aber sonst herrscht überall Florians übliche Unordnung. Seine Dinos sind über die Regale verteilt, ein Zoo von Stofftieren bewohnt sein Bett, auf dem Klavier liegt der Band mit den Sonatinen von Kuhlau aufgeschlagen. Es sieht so aus, als müsse er jeden Moment zur Tür hereinkommen. Aber er kommt nicht. Wir sitzen allein auf seinem Bett. Michael nimmt mich in den Arm.
„Sie finden ihn“, sagt er ruhig.
Michael hat sich unter Kontrolle. Selbst in solchen Situationen kann er noch mit seiner gewohnten Selbstdisziplin funktionieren. „Warum sollte er plötzlich verschwunden sein? Morgen finden sie ihn.“
Ja, morgen, morgen … Wie oft habe ich mir das damals gesagt, bestimmt zwanzigmal am Tag: Morgen wird alles wieder gut. Damals war ich noch voller Hoffnung, ich konnte mir nicht vorstellen, daß ausgerechnet mein Kind verschwunden sein sollte, daß ausgerechnet uns das passieren sollte, wovon sie immer im Fernsehen berichten. Also sagte ich mir immer wieder: die haben Recht, er lebt noch, die Polizei findet ihn. Oder er taucht von selber wieder auf. Es gibt die verrücktesten Zufälle im Leben, er ist noch keine zwei Tage weg, er kann irgendwo liegen, verletzt vielleicht, aber lebend, sie finden ihn, einige Tage im Krankenhaus, dann ist alles wieder in Ordnung und so wie früher.
***
Der nächste Tag war der fünfzehnte Oktober 1992, ein Donnerstag. Hunderte Polizisten, Hundeführer mit zwanzig Schäferhunden, Feuerwehrleute, Freiwillige, Mitglieder von Vereinen, Veteranen von Polizei, Bundeswehr und Bundesgrenzschutz suchten unser Stadtviertel und die angrenzenden Hügel ab. Die Suche dauerte den ganzen Tag, aber sie fanden nichts. Am nächsten Tag suchten sie weiter, und nun wurden Hubschrauber des
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