Die in der Hölle sind immer die anderen
Sauna, im Rotary Club fing man an, uns aus dem Weg zu gehen. Ich habe Jahre gebraucht, um das zu verstehen, aber heute weiß ich: Die meisten Menschen hassen Opfer von Verbrechen und Katastrophen genauso wie sie unheilbar Kranke, Alte und Behinderte in Wahrheit auch hassen und verabscheuen. Jeder, der krank, behindert oder einfach nur alt und gebrechlich ist, paßt nicht in eine Gesellschaft, in der alle permanent jung, gesund, glücklich und lustig sein müssen. Die Leute wollten nichts mehr mit uns zu tun haben, weil wir unglücklich, verzweifelt und inzwischen auch arm waren. Unser psychischer und wirtschaftlicher Ruin erinnerte die Gesunden, Jungen und Glücklichen daran, daß auch sie, sollten sie einmal Pech haben, vom Abgrund nur Zentimeter entfernt waren und eine falsche Bewegung sie ihre gesamte Existenz kosten konnte. Am Schluß hatten wir zu niemandem mehr Kontakt außer zu Dr. Hartwig und Christian Schirra.
In jenen ersten Jahren nach Florians Tod dachte ich manchmal, wenn wieder ein Tiefschlag kam, so, als Michaels Arbeitslosenunterstützung auslief und er Sozialhilfe beantragte, oder als wir eine Steuernachforderung über zwanzigtausend Mark bekamen und den Offenbarungseid leisten mußten: jetzt ist Schluß, schlimmer kann es doch gar nicht mehr kommen, jetzt ist die Talsohle erreicht, was will das Schicksal eigentlich noch von uns? Jeden Tag sah ich die Post mit klopfendem Herzen durch. Was wird heute wieder Unangenehmes dabei sein? fragte ich mich, wenn ich die Absender überflog. Und doch sollte alles in den nächsten Jahren noch viel schlimmer kommen.
***
Die zweiunddreißig Polizisten der Sonderkommission Dreirad arbeiteten das ganze Jahr 1993 mit Hochdruck an der Fahndung nach Florians Mörder. „Wir finden ihn“, sagte Christian Schirra jedesmal, wenn er mit uns redete. In einem Jahr gingen über tausend Hinweise bei der Soko ein, aber es war keine heiße Spur darunter. Plakate mit Florians beschädigtem Dreirad, seinem Bild und den Kleidungsstücken, die er zuletzt getragen hatte, waren überall zu sehen.
Der erste brauchbare Hinweis kam im Februar 1994. Kommissar Frank Delanque, Schirras tüchtigster Mitarbeiter, suchte das Waldstück, in dem Florian gefunden worden war, sogar in seiner Freizeit ab. Er untersuchte in einem Umkreis von hundert Metern das Erdreich rund um die Fundstelle mit der Genauigkeit eines Archäologen. Dabei fand er einen billigen Ring aus einer Silberlegierung und zwei Zigarettenstummel. Der Ring war aus breitem, gewölbtem Metall. In seine Innenseite waren arabische Schriftzeichen eingraviert. Es stellte sich heraus, daß die Zigarettenstummel von einer französischen Marke stammten, die in Deutschland nicht verkauft wurde. Aber das sagte nicht viel, denn zehn Kilometer weiter in Forbach gab es genau diese Zigaretten an jedem Kiosk.
Als Schirra uns den Ring zeigte, hatte ich nicht das Gefühl, daß das nun eine heiße Spur war.
„Heißt das, der Täter ist ein Araber?“ fragte ich.
„Nein. Es heißt, daß dieser Ring vermutlich einem jüngeren Mann gehörte. Das ist ein Ohrring und kein Fingerring. In Frankreich finden Sie tausende von Männern, die solche Ringe tragen.“
„Also ein Franzose“, sagte Michael.
„Könnte sein, aber da würden wir schon zu viel schließen. Für mich heißt das, daß wir es mit einem Mann unter dreißig zu tun haben, der einen Ohrring trug.“
„Also jeder dritte“, sagte ich, frustriert von den angeblichen Fortschritten der Soko.
„Ich weiß, daß es zäh ist“, sagte Schirra, „aber es ist ein Fortschritt.“
Wir wußten damals noch nicht, daß eben dieser Ring in seinen Gravuren mikroskopisch kleine Spuren von Blut aufwies - Blut, das eindeutig von Nicolai stammte.
Der nächste wichtige Hinweis kam im April 1994. Eine Frau gab bei der Polizei zu Protokoll, sie hätte am Nachmittag des dreizehnten Oktober 1992 einen blauen Kleinwagen auf dem Autobahnparkplatz St. Ingbert gesehen, in dem sich ein Mann und ein Kind befunden hätten.
Diese Spur schien Schirra so wichtig, daß er uns in die ehemalige französische Schule nach Saarlouis bestellte, wo die Soko ihr Quartier aufgeschlagen hatte.
„Was ist das für eine Frau“, fragte Michael, „und warum hat sie sich nicht früher gemeldet?“
„Kaffee?“ fragte Schirra und ging zu einer Kaffeemaschine auf dem Gang, die so aussah, als würde der Kaffee schon seit Stunden auf der Heizplatte stehen. Er schenkte uns zwei Tassen ein, entschuldigte sich dafür, daß
Weitere Kostenlose Bücher