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Die in der Hölle sind immer die anderen

Die in der Hölle sind immer die anderen

Titel: Die in der Hölle sind immer die anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Walker Jefferson
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Steigung zu bewältigen. Kurz vor der Steigung überholte ich ihn. Zweihundert Meter weiter bin ich dann rechts ran gefahren und habe ihn im Rückspiegel beobachtet. Als er den Scheitelpunkt des Hügels erreicht hatte, hielt er plötzlich an. Er war erschöpft, aber auch glücklich, denn er lachte, er freute sich, daß er die Steigung geschafft hatte. Er hielt eine oder zwei Minuten an und sah auf die Uhr, dann stieg wieder auf sein Rad und fuhr los. Er war auf dem Weg zur Schule. Hinten auf dem Rad hatte er einen Metallkorb, in dem seine Schultasche lag.“
    Nicolais Stimme wurde, während er sprach, sowohl leiser als auch lebhafter. Er beachtete Weigandt überhaupt nicht mehr. Er redete wie im Traum.
    „Jetzt rollt er den Hügel hinab. Er lacht immer noch. Der morgenkühle Herbstwind weht durch seine roten Haare. Nun nimmt er die Füße von den Pedalen und rollt im Leerlauf. Er beugt den Oberkörper nach vorne und schaut verwegen durch die Gabel der Lenkstange. Er macht laute Brummgeräusche. In seiner Vorstellung ist er jetzt ein Motorradfahrer. Nun ist er mir bis auf hundert Meter nahegekommen. Ich fahre wieder los, ganz langsam, er ist jetzt ganz dicht an meinem Heck dran, ich schwenke in Richtung Straßenmitte, so daß er zwischen mir und dem Gehsteig durchfahren kann. Zwanzig Meter vor uns ist eine weite offene Fläche, da haben sie ein Haus abgerissen. Als wir beide gleichauf an dieser Stelle vorbeikommen, ziehe ich den Wagen plötzlich nach rechts hinüber. Ich streife das blaue Dreirad mit dem vorderen Kotflügel und dränge es immer weiter auf den freien Platz zu. Plötzlich kippt das Dreirad nach rechts, der Junge stürzt und fällt rechts auf den Schotter. Ich halte sofort, laufe um den Wagen herum, öffne die Beifahrertür und stoße den Jungen ins Auto hinein. Das geht alles ganz schnell. Im Rückspiegel sehe ich eine Frau an einer Bushaltestelle, die mich dabei beobachtet, ihre Augen gehen zu dem Dreirad und dann wieder zu meinem Auto. Sie will etwas rufen, sie hebt eine Hand, an der eine Einkaufstasche hängt, aber sie ruft nichts, sie schaut noch einmal nach dem Dreirad, und dann verschwindet sie aus dem Rückspiegel. In einer Minute bin ich unten in St. Arnual, da ist so ein Motorradshop an der Ecke, dann fädle ich in die Autobahn ein. Der Junge neben mir weint und schreit, aber er sieht nicht verletzt aus. Seine Hose ist zerrissen, aber er blutet nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob mich jemand außer der Frau gesehen hat, aber ich habe nicht den Eindruck. Im Auto beruhige ich mich schnell. Neben mir sitzt endlich ein Kind, das Kind, das ich mir geholt habe, mein Kind. Es gehört nun mir. Mir ganz allein.“

Kapitel 14          
    1993 und 1994 waren die Jahre, in denen wir alles verloren, was wir noch besaßen. Wenn ich daran denke, wie Banken, Gläubiger, Rechtsanwälte und Inkassounternehmen über uns herfielen, dann habe ich noch heute den Eindruck, daß es denen gar nicht schnell genug gehen konnte. Michaels Abfindung, die nach Steuern noch vierzigtausend Mark ausmachte, rettete uns bis in den Herbst hinein. Im Dezember 1993, genau ein Jahr, nachdem wir Florian begraben hatten, konnten wir zum ersten Mal eine Hypothekenrate nicht bezahlen. Mit meinem Gehalt und Michaels Arbeitslosenunterstützung waren wir nicht in der Lage, jeden Monat sechstausend Mark zurückzuzahlen.
    Also gingen wir zur Sparkasse und baten darum, die Tilgung auszusetzen und die Laufzeit des Darlehens zu verlängern, um die Monatsrate zu reduzieren. Wir waren vollkommen sicher, daß die Sparkasse auf unsere Wünsche eingehen würde. Unser Schicksal war Stadtgespräch gewesen. Michael hatte viele Jahre einige der größten Firmenkunden der Sparkasse betreut. Wir kannten den Leiter der Hypothekenfinanzierung gut, wir verkehrten in denselben Kreisen und hatten uns sogar schon privat getroffen. Es dauerte keine Stunde, bis wir wußten, daß die Sparkasse nichts für uns tun würde. Derselbe Kreditberater, der uns früher in der Empfangshalle abgeholt, unsere Mäntel auf Kleiderhaken gehängt und uns gekühlte Fruchtsäfte angeboten hatte, ließ uns nun eine Stunde neben dem Gummibaum im Gang warten. Als wir ihm in dem bekannten, geräumigen Büro mit Blick auf die Saar gegenübersaßen, war die Stimmung vom ersten Moment an frostig. Der Abteilungsleiter verzichtete auf eine lange Einleitung. Ihm sei unsere schwierige Lage bewußt, auch er hoffe, daß Michael bald wieder eine Stellung finden würde, aber Darlehen

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