Die in der Hölle sind immer die anderen
seien eben auch nur Kredite, und die müßten nun mal zurückgezahlt werden, sagte er und trommelte dabei mit den Fingern auf seinen Schreibtisch aus Nußbaumholz. Wir baten um Reduzierung der Belastung, verwiesen auf unseren hinlänglich bekannten Fall, auf unsere langjährige Beziehung zur Bank und auf die Hoffnung, daß Michael bald wieder eine Stelle finden würde. Nichts davon beeindruckte unser Gegenüber. Schließlich sagte Michael: „Was glauben Sie, was das für ein Imageschaden für Ihre Bank ist, wenn Sie unser Haus versteigern?“
„Aber so weit sind wir doch noch gar nicht“, sagte unser Immobilienspezialist mit einem Blick auf die Uhr.
„Und wenn wir wirklich versteigern lassen, dann wird das von einer Tochtergesellschaft abgewickelt, die niemand mit uns in Verbindung bringt.“
In den nächsten Monaten unternahmen wir alles, um das Haus zu retten. Wir sprachen bei Banken von Kaiserslautern bis Mannheim wegen einer Umschuldung vor. Wir saßen in muffigen Hinterzimmern Kredithaien gegenüber, die uns ohne Bonitätsprüfung Summen zu Konditionen geliehen hätten, die uns noch schneller ruiniert hätten als die Sparkasse. Michael verschickte Bewerbungen wie nach dem Studium. In langen Briefen an Stadträte und Landtagsabgeordnete schilderten wir unsere Probleme. Wir waren uns nicht einmal zu schade, Freunde und Bekannte um ein Darlehen anzubetteln, anders kann ich es nicht sagen.
Aber nichts und niemand half uns. Im Dezember 1994, fast auf den Tag genau zwei Jahre, nachdem Florian im Wald gefunden worden war, wurde unser Haus von einem Metzgermeister für die Hälfte des Schätzwertes ersteigert.
Im Januar 1995 zogen wir nach Saarbrücken-Rastpfuhl in eine Dreizimmer-Wohnung aus den sechziger Jahren. Im Bad fielen die Fliesen von der Wand. Die Wohnzimmerfenster öffneten sich auf einen Hinterhof mit Teppichstangen und verhungerten Bäumen, die einen schmutzigen Kinderspielplatz einfriedeten. Wir waren in die Art von Wohnung zurückgekehrt, in der Michael und ich aufgewachsen waren. Aber das war nicht das Schlimmste. Irgendwann würde es wieder mit uns aufwärts gehen, und dann würden wir woanders hinziehen. Das Schlimmste war der Umzug von Florians Zimmer.
Jeden Gegenstand in Florians Zimmer würden wir in die Hand nehmen und einpacken müssen. In den Wochen nach seinem Verschwinden hatte ich jede Woche sein Bett neu bezogen und frische Sachen zum Anziehen für ihn herausgelegt. An dieser Gewohnheit hielt ich fest, auch nachdem wir wußten, daß Florian tot war. Sein Zimmer sah immer so aus, als würde er jeden Moment zur Tür hereinkommen. Und nun zogen wir in eine Wohnung, in der Florian nie gewesen war. Es war uns beiden von Anfang an klar, daß Florian auch in unserer neuen Wohnung sein Zimmer haben sollte. Er wird sein Zimmer bei uns haben, bis wir tot sind. Also richteten wir ihm sein neues Kinderzimmer wieder genauso ein wie sein altes. Wir stellten die Plüschtiere auf, legten seine Schulhefte auf den Schreibtisch, sortierten die Schulbücher in das Regal, räumten den Schrank voll und legten die Sonatinen von Kuhlau wieder auf das Klavier. All das erledigten wir mechanisch und ohne zu reden. Keiner von uns wagte zum anderen zu sagen: Laß uns aufhören damit , das hat doch alles keinen Sinn mehr.
Michael saß nun die meiste Zeit im Trainingsanzug in der Wohnung, las Zeitung, sah fern oder starrte einfach zum Fenster hinaus. Er hatte mehr als hundert Bewerbungen verschickt und nur Absagen erhalten. Das Rollenverhältnis zwischen uns hatte sich vollkommen verkehrt. Nun verdiente ich den Lebensunterhalt, ich erzählte von der Arbeit und vom Leben draußen, und er saß zu Hause, kaufte ein, kochte und erzählte, was er in der Zeitung gelesen oder sich im Fernsehen angesehen hatte. Mir wäre lieber gewesen, es wäre alles wie früher geblieben, denn Michael kam mit der Rolle des Hausmanns, der Arbeitslosengeld bezieht, nicht zurecht. Es gab kaum einen Abend ohne Streit. Einmal, während einer besonders heftigen Auseinandersetzung, in der es wie immer um Kleinigkeiten ging, schrie ich Michael an: „Dann hau doch ab, wenn es dir hier nicht paßt.“
Als ich das gerufen hatte, stand Michael auf, bleich, unrasiert und mit hängenden Tränensäcken, so wie er jetzt immer aussah, und sagte ganz ruhig zu mir: „Ich würde auch gehen, wenn ich einen Ort hätte, wo ich hingehen könnte, und wenn ich einen Menschen kennen würde, mit dem ich über Florian reden könnte. Aber ich kenne keinen. Ich
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