Die in der Hölle sind immer die anderen
und wenn du jetzt nicht weinst, so weinst du nie.“
„Was heißt das, was ist das, was ...?“
„Du weißt nicht, was das ist? Ich dachte, du bist Schriftsteller? Das ist die Geschichte von Ugolino, der seinen Söhnen nicht helfen konnte. Und es ist auch meine Geschichte, denn auch ich konnte meinem Sohn nicht helfen. Mein Vater, warum hilfst du mir nicht? Seit zehn Jahren ruft Florian mir diese Frage zu, und seit zehn Jahren kann ich sie nicht beantworten. Und weil ich Florian nicht helfen konnte, wirst du hier in deinem Keller verrecken. Das ist mein letzter Dienst für ihn.“
Weigandt holt mit der linken Hand ein schwarzes Metallrohr aus der Hosentasche, zieht die Pistole aus dem Holster und schraubt das Metallrohr auf die Mündung. In frenetischer Angst reißt Nicolai an den Handschellen. Er wirft sich mit seinem ganzen Körper vor und zurück, bis sich der weiße Lack des Warmwasserboilers in Flocken zu lösen beginnt. Weigandt zielt über die Kimme auf Nicolais rechten Oberschenkel. Der Schuß ist nicht lauter als der Plopp eines herausspringenden Sektkorkens. Im selben Moment platzt auf Nicolais rechtem Oberschenkel eine Wunde groß wie eine Orange auf.
„Hören Sie auf“, schreit Nicolai mit überschnappender Stimme.
„Jetzt, wo es so schön ist?“ sagt Weigandt und feuert auf den linken Oberschenkel. Aber er hat schlecht gezielt. Die Kugel trifft nicht die Mitte des Beins, sondern streift die Außenseite der Hüfte und schlägt dann in die Wand dahinter ein. Aus den Ziegeln staubt rot das Mehl auf, die Hülse klirrt auf den Boden. Das Projektil hat ein faustgroßes Stück Fleisch aus der Hüfte gerissen. Blut, Fleischfetzen und Knochensplitter sind über die ganze Wand verteilt. Der dritte Schuß trifft die rechte Schulter, wo das Hohlspitz-Projektil Nicolai den Arm glatt wegreißt. Alles Menschliche ist aus Weigandts Gesicht gewichen, als er den Schwerverletzten ansieht, der, von Blut überströmt, halbtot und zerschunden, am Gasbrenner hängt.
Nicolai hebt seinen Kopf und sieht Weigandt direkt in die Augen.
„Einen Arzt.“
Seine Stimme ist ein keuchendes Flüstern geworden. „Ich brauche einen Arzt, rufen Sie einen Krankenwagen.“
„Du brauchst keinen Arzt mehr, Falko. Du brauchst nur noch einen Bestatter. Dir kann kein Arzt der Welt mehr helfen. Du würdest allein an der Wunde im Oberschenkel verbluten.“
Nicolai hört die Worte Weigandts nicht mehr. Er ruft immer wieder nach einem Arzt. Weigandt reagiert nicht, sondern betrachtet den nackten Körper vor sich, bis er sich endlich bückt und mit der rechten Hand nach der Messerhalterung an seiner Wade tastet. Weigandt spürt den warmen Kunststoffgriff des Messers in seiner Hand. Er wandert mit den Fingern am Griff entlang, bis er den kalten Stahl der Klinge mit der Daumenkuppe ertastet. Mit dem Messer in der Rechten tritt er langsam auf Nicolai zu. Dieser hebt seinen Kopf, als sich die Klinge bereits kurz vor seiner Brust befindet. Mit einer letzten unglaublichen Anstrengung reißt Nicolai ein Bein hoch und versetzt Weigandt einen Tritt in den Magen. Der verliert das Gleichgewicht und fällt mit dem Steiß voraus rückwärts auf den Boden. Der Schmerz ist so heftig, daß ihm einen Augenblick die Luft wegbleibt. Nicolai zieht sich an den Handschellen nach oben und tritt das Messer in die Ecke des Raumes. Weigandt beugt sich über seine Knie und atmet unregelmäßig und keuchend. Er hockt da wie ein Boxer in der Ecke, der nicht mehr hochkommt. Nicolai sagt etwas, aber Weigandt hört ihn nicht.
Schließlich zieht Weigandt sich mühsam an einem der Rohre an der Wand hoch und holt das Messer aus der Ecke. Als er es wieder in der Hand hat, geht er zurück zu Nicolai und zieht dessen Kopf an den Haaren nach unten. Einen kurzen Augenblick verharrte die blitzende Klinge in der Luft über Nicolais Kopf, dann saust der scharfe Stahl mit der ganzen Kraft, die Weigandt in seine beiden Arme noch legen kann, nach unten. Es gibt einen trockenen, knirschenden Laut, als das Messer in Nicolais Rücken über seinem linken Schulterblatt eindringt.
Als die Klinge bis zum Heft in der Schulter steckt, zieht Weigandt sie mit einem Ruck wieder heraus und stößt Nicolai von sich. Der atmet einige Augenblicke schwer, bis ihn ein Würgereiz schüttelt. Er fällt nach vorne, bis ihn die Handschellen aufhalten, und atmet mit einem rasselnden Pfeifen aus. Als er sich zurücklehnt, sickert ein dünner Faden hellen Blutes aus seinem rechten Mundwinkel. Weigandt
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