Die in der Hölle sind immer die anderen
hat den linken Lungenflügel getroffen.
Nicolai versucht zu sprechen, aber seine Stimme versagt. Seine Augen treten weit aus ihren Höhlen hervor, während seine Lippen unablässig versuchen, Worte zu formen. Weigandt packt Nicolai am Haarschopf, reißt ihn nach oben und schaut ihm ins Gesicht. Die Wasser des Lebens ebben aus Nicolais glasigen Augen zurück. Weit hinter der braun geränderten Iris flackert die Flamme des Lebens noch, aber ihr Schimmer wird von Sekunde zu Sekunde schwächer. Noch einmal reißt Nicolai die Augen auf und starrt Weigandt schreckgeweitet ins Gesicht. Mit einer letzten Anstrengung richtet er sich auf, versucht mit aller Kraft, noch etwas zu sagen, aber es dringen ihm nur mehr erstickte Laute aus dem Mund. Blut tropft in schaumigen Blasen von seinen weißengewordenen Lippen. Endlich bricht der Blick in seinen Augen. Nicolai ist tot.
Kapitel 18
Der Prozeß gegen Falko Nicolai begann am zweiten September 1994. Nicolai war zum Tatzeitpunkt einundzwanzig Jahre alt gewesen, weshalb die Staatsanwaltschaft Anklage vor der großen Jugendkammer des Landgerichts Saarbrücken erhob. Ob Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht zur Anwendung kommt, liegt im Ermessen des Gerichts. Laut Gesetz können Straftäter zwischen achtzehn und einundzwanzig Jahren nach Jugendstrafrecht verurteilt werden, wenn bei ihnen eine Reifeverzögerung vorliegt. Ob das der Fall ist, beurteilt ein Psychologe. In Nicolais Fall war dieser zu dem Schluß gekommen, daß bei Nicolai eine Reifeverzögerung vorläge. Das bedeutete, daß er von vornherein zu höchstens zehn Jahren Gefängnis verurteilt werden konnte. Und das bedeutete auch, daß das Gericht keine besondere Schwere der Schuld feststellen und nach Ablauf der Haftzeit keine Sicherheitsverwahrung anordnen konnte. Das war die erste unserer zahlreichen Niederlagen in diesem Prozeß.
Niemand außer Michael und mir sah das als eine Niederlage, auch nicht der Anwalt, der uns als Nebenkläger vertrat. Ich wollte, daß Nicolai so hart wie möglich bestraft wird, und genau das habe ich Freunden, Bekannten und Journalisten immer wieder gesagt; aber komisch, die Reaktion der Welt darauf war immer die gleiche: Keine Strafe der Welt würde Florian wieder lebendig machen. Das weiß ich auch. Aber Menschen, die so etwas sagen, nehmen offenbar an, daß nun, da unser Kind einmal tot und begraben war, eine Bestrafung des Mörders so etwas wie eine lästige Pflichtübung sei, die niemandem mehr etwas bringt. So, als gäbe es überhaupt keine Schuld und keinen Schuldigen.
Damals begann unser endgültiger Abstieg in die Hölle, denn es ist eine Sache, ob man ein Kind durch ein Sexualverbrechen verliert, eine ganz andere aber, ob nun Scharen von Menschen kommen, die einem erklären, daß der Täter, weil er eine schwere Kindheit hatte, selber arm dran, schuldunfähig, reifeverzögert, unzurechnungsfähig und psychisch krank ist, also zum Tatzeitpunkt vermindert steuerungsfähig war, deshalb für seine Tat nicht verantwortlich, ergo nicht zu bestrafen, sondern zu therapieren sei. Und diese Therapie sollte am besten auch nur drei, vier Jahre dauern, damit der Täter dann resozialisiert werden und bald wieder ein normales Leben führen konnte. Ich kann mich noch an die Schlagzeile der BILD erinnern, die unter dem Foto von Nicolai stand: Ist er nach fünf Jahren wieder draußen? Nur wir, wir sollten nie wieder ein normales Leben führen. Denn Michael und ich hatten natürlich keine schwere Kindheit gehabt, uns war alles nur so zugeflogen. Der Täter sollte in die Gesellschaft wieder eingegliedert werden, während wir für immer rausflogen.
Am zweiten September 1994 sahen wir also zum ersten Mal den Mann von Angesicht zu Angesicht, der Florian entführt, mißbraucht und umgebracht hatte. Als ich Nicolai im Gerichtssaal sah, war ich fast schon enttäuscht, so normal sah er aus. Hatte ich ein Monster erwartet? Einen Buckligen mit schielenden Augen und Fangzähnen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß Nicolai absolut durchschnittlich, jugendlich und nicht einmal unsympathisch aussah. Er war höchstens mittelgroß und schlank. Seine blonden Haare waren mit Gel an seinem runden Schädel festgeklebt. Eine einzelne Strähne reichte bis in die Stirn hinein, und auch die sah so aus, als wären sie angeklebt. Sein Kinn war mit Pickeln bedeckt. Er hatte dichte, zusammengewachsene Brauen und einen sauber gestutzten Oberlippenbart über einem schmalen, immer irgendwie spitzen Mund. Sein
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