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Die in der Hölle sind immer die anderen

Die in der Hölle sind immer die anderen

Titel: Die in der Hölle sind immer die anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Walker Jefferson
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Gesicht war rundlich, und wenn man ihn so sitzen sah, dann machte er einen fast treuherzigen Eindruck. Er trug einen dieser schlechtsitzenden dunklen Anzüge wie die Zeugen Jehovas, wenn sie einem an der Tür den Wachtturm unter die Nase halten. Wie ein Theologiestudent sieht er aus , sagte Michael.
    Am ersten Tag sagte er kaum ein Wort. Als er zur Person und zur Sache vernommen wurde, nickte er entweder nur oder sagte gar nichts. Der Vorsitzende mußte ihn zweimal fragen, ob er die Auskunft über seine persönlichen Verhältnisse verweigere, bis er endlich angab: Falko Nicolai, dreiundzwanzig Jahre alt, wohnhaft Justizvollzugsanstalt Saarbrücken, von Beruf Küchenhelfer . Es dauerte Tage, bis wir ihn einmal länger reden hörten, und es dauerte genausolange, bis er aufhörte, auf die PVC-Fliesen des Gerichtssaales zu starren, seinen Blick hob und in das Publikum schaute. Als er schließlich mehr als drei Worte hintereinander sagte, war ich von seinem stark näselnden Dialekt verblüfft. Das einzig Bemerkenswerte an Nicolai war ein nervöser Tic, ein unablässiges Blinzeln seiner Augen.
    So unauffällig der Angeklagte, so bemerkenswert war seine Verteidigerin. Es war eine der großen Überraschungen dieses Prozesses, daß Nicolai von einer Staranwältin verteidigt wurde, obwohl wir bis drei Tage vor Prozeßbeginn doch ganz etwas anderes gehört hatten. Dr. Frobenius, der uns als Nebenkläger vertrat, hatte wochenlang versichert, daß renommierte Verteidiger mit einem Fall wie diesem keine Sympathie-Punkte sammeln könnten.
    „Entweder“, sagte er, „bekommt Nicolai einen Pflichtverteidiger zugewiesen, oder es findet sich ein junger Kollege, der den spektakulären Fall dazu nutzt, um auf sich aufmerksam zu machen, aber von dem haben wir nichts zu befürchten.“
    Es hatte sich jedoch kein junger Kollege gefunden, sondern eine außergewöhnliche und brillante Strafverteidigerin, die zwar nicht mehr jung war, aber immerhin so aussah. Aber vor allem war sie auf Draht. Was habe ich diese Frau dafür gehaßt, daß sie keinen Trick, keine Taktik und keinen noch so unfairen Schachzug ausließ, Richter, Schöffen, Staatsanwälte, Beisitzer, Sachverständige, Zeugen und Gutachter aus dem Konzept zu bringen und zugunsten von Nicolai einzunehmen. Das konnte sie wirklich gut.
    Ihr Name war Andrea Zitzelsberger. Sie kam aus München, hatte die Rundungen an den richtigen Stellen und kleidete sich in dem teuren, konservativen Trachtenlook, der in Bayern als schick gilt. Ihr charmantes Lächeln blitzte immer genau in den Momenten auf, in denen Staatsanwälte, Richter und Publikum eine Dosis Optimismus und Mitgefühl mit dem Angeklagten brauchen konnten. Aber das war es nicht allein, was ihren Erfolg ausmachte. Sie war eine intelligente, mit allen Wassern gewaschene Juristin, die sich gründlicher als alle anderen in den Fall eingearbeitet hatte. Kein Detail war ihr beim Aktenstudium entgangen. Ihr wendiger Geist folgte den Argumenten von Staatsanwaltschaft und Nebenklage wie ein Spürhund. Der erste Coup gelang ihr, als sie einen Antrag auf Ablehnung des Oberstaatsanwalts wegen Befangenheit stellte. Irgendwie hatte sie herausgefunden, daß dieser Mann zur selben Zeit wie Michael Mitglied im Lions-Club gewesen war. Weder hatten wir mit diesem Staatsanwalt je ein Wort gewechselt, noch hatten wir versucht, auf die Prozeßführung Einfluß zu nehmen, aber genau das unterstellte sie, und der Vorsitzende gab ihrem Antrag statt. An die Stelle dieses Oberstaatsanwaltes, der als tüchtig und genau galt, trat ein gemütlicher Beamter am Ende seiner Laufbahn, der hundertfünfzig Kilo wog und sich geistig und körperlich so wenig wie möglich bewegte. Jede Abweichung von der Norm, jede Belastung, jede Überstunde war ihm ein Greuel. Er wollte den Fall so schnell und so bequem wie möglich hinter sich bringen und es sich nach gut saarländischer Art mit niemandem verscherzen.
    Unser Dr. Frobenius war ein solider Jurist, aber von Strafprozeßordnung und forensischer Psychologie hatte er zu wenig Ahnung, um der Zitzelsberger gewachsen zu sein. Er schadete uns mehr, als er uns nützte. Er öffnete dieser Frau Tür und Tor, um immer wieder einzuhaken, anstatt unsere Interessen durchzusetzen. Manchmal habe ich mich gefragt, wen der eigentlich vertritt: uns oder Nicolai.
    Die Vernehmung des Angeklagten begann mit einem Paukenschlag. Nachdem Nicolai sein frühes Geständnis widerrufen und seitdem geleugnet hatte, Florian auch nur berührt zu haben,

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