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Die in der Hölle sind immer die anderen

Die in der Hölle sind immer die anderen

Titel: Die in der Hölle sind immer die anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Walker Jefferson
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fette, rote, von blauen Äderchen durchzogene Gesicht, das man noch während meines Studiums apoplektisch nannte, ein Gesicht, das einen zukünftigen Schlaganfall anzeigt, und genau so einen wird er ein Jahr später tatsächlich erleiden und von da an sabbernd, stammelnd und unfähig, auch nur einen Satz zu reden, im Rollstuhl sitzen, um auf den gnädigen Tod zu warten, der ihn vier Jahre später endlich in sein verdientes Grab befördern wird. Aber noch ahnt er nichts von Krankheit und Tod, noch kann er reden, aber offensichtlich nicht frei, denn alles, was er sagt, liest er vom Blatt ab.
    Und viel ist es nicht, was er sagt, obwohl dies einer der spektakulärsten Gerichtsprozesse des Saarlands ist und der Fall und die Schuld des Angeklagten eindeutig sind, schließlich gibt es ein Geständnis, das auch noch durch eine Fülle von Indizien untermauert wird. In nicht einmal einer halben Stunde faßt der Oberstaatsanwalt in seinem Juristendeutsch, mehr in halben als ganzen Sätzen sprechend, hustend, schwer atmend und sich immer wieder räuspernd, das hinlänglich Bekannte zusammen, verharrt umständlich bei Tatsachen, die niemand bezweifelt hat, geht aber einer Schilderung von Mißbrauch und Vergewaltigung sorgfältig aus dem Weg, so daß man glauben könnte, Florian wäre bei einem Waldspaziergang zusammen mit Nicolai gewissermaßen von selbst tot umgefallen. Als er damit zu Ende ist und den Inhalt der vor ihm liegenden Blätter offenbar erschöpft hat, beginnt er, unerwartet zu improvisieren, betont Nicolais schwere Kindheit und lieblose Jugend, weist auf die schwierigen Verhältnisse in der DDR hin und unterstreicht, wie hart der Übergang von einem Gesellschaftssystem zum anderen insbesondere für einen wie Nicolai gewesen sein müsse, der dadurch jeden Halt, auch ethischer und moralischer Natur, verloren habe, weshalb der Tötungsvorgang als Körperverletzung mit Todesfolge bei verminderter Schuldfähigkeit zu bewerten sei. Deshalb beantrage er ein Strafmaß von sechs Jahren und die Unterbringung des Angeklagten in der Psychiatrie.
    Als ich das höre, brennen meine Ohren, rast es in meinem Kopf, legt sich eine Eisenplatte auf meine Brust. Ich will schreien, gellend schreien, so, wie ich noch nie geschrien habe, will brüllen: Ja und die Vergewaltigung und der Mißbrauch, spielt das keine Rolle, sechs Jahre, das kriegt man doch schon, wenn man eine Bank überfällt, das war Mord, das war doch ganz klar Mord . Aber ich bleibe stumm, sitze nur da und unterdrücke die aufsteigenden Tränen mit aller Macht, presse die Zähne aufeinander, drücke die Hände gegen meine Brust, damit ich nur nicht losheulen muß. Ich blicke zu der einen Schöffin hinüber, die ihr wie lackiert glänzendes schwarzes Haar zu einer Turmfrisur hochgesteckt hat und in ihrem roten Kleid mit der billigen Korallenkette so dasitzt, als würde sie das alles überhaupt nichts angehen.
    In der Pause auf dem Gang kommt Frobenius, der kein Mandat mehr hat, wieselnd auf mich zu, will irgendwas sagen, und endlich schreie ich jetzt, sage ihm, er solle sich zum Teufel scheren, ohne ihn wären wir jetzt nicht da, wo wir heute sind. Dr. Hartwig, der zur Urteilsverkündung angereist ist, kommt mit einer Flasche Mineralwasser, bietet mir Beruhigungsmittel an, will mich nach Hause bringen, aber ganz egal, was heute noch kommt: das werde ich jetzt durchstehen.
    Als wir wieder drin sind, steht die Zitzelsberger auf, rafft den Talar um ihre Schultern und geht mit festen Schritten mitten in den Saal hinein. Jetzt ist ihre große Stunde gekommen, und sie nutzt sie, sie ist bestens vorbereitet, das sehe ich schon an den nagelneuen Lederstiefeln, die sie heute trägt, an ihren aufgefrischten Strähnchen und ihrer Perlenkette. Ihre dunklen Augen sind rot gerändert, ihre Bewegungen eckig, die Bleiche der Wangen ist überschminkt, so sieht man aus, wenn man kaum geschlafen hat, aber das scheint sie nur zu beflügeln. Wie eine Mischung aus Medea und Elektra kommt sie mir vor. Sie beginnt langsam, ausführlich und leise zu reden, zählt alles, was für Nicolai spricht, nochmals auf, unterschlägt seine Vorstrafen, erwähnt Florian, Vergewaltigung, Mißbrauch und Mord mit keinem Wort, redet immer nur von der schweren Kindheit und Jugend des Angeklagten, von der Lieblosigkeit, Sprachlosigkeit, Gefühllosigkeit seiner Erziehung. Alles, was gegen Nicolai spricht, zweifelt sie an: das Geständnis, das Fasergutachten, die Aussagen der Zeugen, praktisch die ganzen Ermittlungen

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