Die in der Hölle sind immer die anderen
der Mordkommission. Der Polizei wirft sie unerlaubte Fahndungsmethoden, Täuschung und Folter vor, dem offiziellen psychologischen Gutachter Inkompetenz, der Presse Vorverurteilung. Sie spricht in langen, druckreifen Sätzen, kommt nie ins Stocken, unterbricht sich nie, liest nichts ab, sagt in einem Atemzug Sätze wie diesen: Denn gerade Angeklagte wie dieser, nicht reich, nicht einflußreich, nicht wichtig, nicht charmant, nicht gut beleumundet, haben einen Anspruch darauf, daß die Sonne des Rechtsstaates über ihnen aufgeht .
Während sie das sagt, durchmißt sie mit raschen Schritten den Saal, klopft mit Fingern und Knöcheln auf die Tische, schaut Zuschauern, Journalisten, Richtern, Schöffen und Staatsanwälten immer wieder direkt ins Auge, allen bis auf Michael und mich. Es ist ein wohleinstudierter Auftritt, wie ich noch nie einen gesehen habe: kein Fernsehprediger, kein amerikanischer Filmanwalt, kein Schauspieler könnte sich mit ihr vergleichen, wie sie hier, abwechselnd flüsternd und flehend, wechselweise beschwörend, rufend, betonend, dann wieder ermahnend, erinnernd und tadelnd stundenlang in einem Feuer spricht und dabei entschuldet, verurteilt und richtet. Was für ein Aufwand für die dreihundertachtzig Mark am Tag, die sie dafür bekommt. Aber ihr geht es nicht um Recht und Gesetz, um Schuld und Unschuld. Ihre flammenden Augen, ihr fliegender Atem, ihre messerscharfe Beredsamkeit zeigen, worum es ihr wirklich geht: um die Lust am Duell, am Hauen und Stechen, am Kräftemessen, an Sport und Sieg. Hier zeigt eine Frau den Richtern und Staatsanwälten, den Schöffen, den Journalisten wie den Zuschauern, daß sie die bessere Juristin ist, die schärfere Denkerin, die wahre Streiterin: eine Frau, die ganz allein gegen einen hochgerüsteten Staat, eine arrogante Justiz, eine sensationsgierige Presse und dumpfe Stammtischbürger zu Felde zieht. Wenn sie sich kerzengerade emporreckt und mit ihrer hohen, heiseren Stimme ihre Verdikte in den Saal ruft, dann sagt sie damit immer auch: Da, wo ich stehe, da ist das Recht.
Es geht gegen Mittag hin, als sie schließlich zum Ende ihres Plädoyers kommt und dafür, wie sie ankündigt, dem Angeklagten eine letzte Frage stellen will, deren Beantwortung ein ganz neues Licht auf den Fall werfe. Und tatsächlich fordert sie Nicolai auf, von einem Ereignis während seines letzten Urlaubes zu berichten. Dieser zieht einen Zettel aus der Jackentasche, steht auf, wird vom Vorsitzenden aufgefordert, sich wieder hinzusetzen, und erzählt dann von einem Urlaub in Kenia, wo er einer Darbietung eingeborener Tänzer , wie er sich ausdrückt, zugesehen habe, wie dann aus dem Ring der Tanzenden einer ausgebrochen und inmitten des Lärms der Trommeln plötzlich mit dem Finger auf ihn, Nicolai, und ein zufällig anwesendes Kind gezeigt, ihn dabei mit einem durchdringenden Blick angesehen habe, einen Blick, den er als Befehl verstanden habe, ein Kind zu töten. Seitdem wäre ihm der schwarze Tänzer mit seinem Befehl, ein Kind zu töten, immer wieder im Traum erschienen, so auch am Abend vor dem Mord an Florian.
Ich blicke hilfesuchend zu Michael und Dr. Hartwig, aber diese beiden sitzen ebenso fassungslos und erschlagen in ihren Sitzen wie ich. Und dann dreht sich Nicolai in unsere Richtung, und zum ersten Mal nach all diesen Wochen sieht er uns direkt an, blicke ich in seine grauen, ausdruckslosen Augen, sehe, wie er den Schmierzettel, von dem er abliest, wendet, wieder zu sprechen beginnt und höre dann gemurmelte Worte der Entschuldigung. Er entschuldigt sich in der Tat bei mir und Michael, stockt, greift wieder zum Zettel, beginnt wieder zu reden und sagt, er habe großes Leid über uns gebracht , das er nie mehr gutmachen könne, wofür er sich in aller Forum entschuldige.
Durch das Publikum geht ein Raunen, man hört Klatscher. Und dann tritt Andrea Zitzelsberger ein letztes Mal in die Mitte des Saales und beantragt rasch und kühl eine Verurteilung wegen Körperverletzung mit Todesfolge, ein Strafmaß von fünf Jahren und die Einweisung des Angeklagten in die Psychiatrie.
***
Nach nur einer Stunde, die meisten Zuschauer sind noch beim Essen oder auf den Gängen, gehen die Türen zum Gerichtssaal auf, strömen die Menschen zurück. Und merkwürdig: das sonst übliche Husten und Tuscheln, das Scharren und Kratzen mit den Füßen unterbleibt heute, eine unwirkliche Stille liegt über dem Saal; als die drei Richter, die Staatsanwälte und Schöffen den Saal betreten, könnte
Weitere Kostenlose Bücher