Die in der Hölle sind immer die anderen
er soeben aufgewacht, „die Auswertung von Lackspuren durch das LKA und eine Rekonstruktion des Unfalls durch Experten von der Deutschen Verkehrstechnik haben ergeben, daß das Dreirad von Florian Weigandt durch Ihr Fahrzeug beschädigt worden ist, das heißt, daß Sie bewußt einen Unfall herbeiführten, um das Kind in Ihre Gewalt zu bekommen – war es nicht so?“
Nicolai warf seiner Verteidigerin einen hilfesuchenden Blick zu und sprach kurz mit ihr.
„War es so oder nicht?“ wiederholte der Vorsitzende.
Mit Nicolais Selbstsicherheit vom Vortag war es vollkommen vorbei. Er schaute wieder angestrengt auf den PVC-Boden vor ihm. Dann nickte er.
„Ja, ich habe das Dreirad mit dem rechten Kotflügel an den Gehweg gedrängt.“
„Ist der Junge gestürzt?“
„Er ist auf den Gehweg gefallen und weinte. Ich bin ausgestiegen, dann habe ich ihn hochgehoben, er war sehr schlank und leicht, und hab ihn zu mir ins Auto gesetzt.“
„Wo sind Sie dann hingefahren?“
„Auf die Autobahn in Richtung Kaiserslautern. Kurz nach St. Ingbert hielt ich auf einem Parkplatz an. Ich habe dann den Jungen aus dem Auto geholt und bin mit ihm in den Wald gegangen.“
Nicolai sagte diese Worte so knapp und sachlich, als würde er vom Kauf eines neuen Fernsehers berichten.
Der rotgesichtige Staatsanwalt blickte plötzlich von seinen Akten auf.
„Und wie haben Sie ihn getötet?“
Nicolai blieb Minuten lang stumm. Als er sprach, klang seine Stimme so leise und gepreßt, daß er kaum zu hören war.
„Ich habe ihn ... ihn … erschlagen.“
„Warum?“
„Ich weiß es nicht. Ich hatte plötzlich Angst, daß mich der Junge erkennen würde, wenn ich ihn wieder gehenließ. Und da ist irgend etwas in mir explodiert.“
„Wie haben Sie das Kind erschlagen?“
Hier brach Nicolai wieder in Schluchzen aus, sagte aber nichts mehr außer, daß er Florian nie hatte töten wollte, was ihm das Gericht schließlich auch glaubte.
Mehr konnte oder wollte Nicolai nicht über Florians Tod sagen, und mehr haben wir auch nie erfahren. Während des Prozesses wollte ich genau wissen, was sich während dieser letzten Stunden zugetragen hatte. Heute bin ich froh, daß ich nicht mehr darüber weiß, denn sie müssen grauenvoll gewesen sein. Ich habe mir meine eigene Version von Florians letzten Stunden auf dieser Welt gebildet, eine sanftere, bessere Geschichte, als sie sich in Wirklichkeit ereignet hat, eine Geschichte, die nur Florian und mir gehört und die mir hilft, die Jahre bis zu meinem Tod zu ertragen. Wüßte ich ganz genau, was Nicolai Florian wirklich angetan hat, dann würde ich nie wieder Ruhe finden. Michael ist da anders. Er studierte den Obduktionsbericht, die Gutachten und Akten bis ins Detail.
„Was hast du davon, wenn du das alles weißt?“ fragte ich ihn.
„Gar nichts. Ich will es einfach nur wissen.“
„Kannst du dann besser schlafen?“
„Damit hat es überhaupt nichts zu tun. Ich würde am liebsten jede Minute rekonstruieren, während derer Nicolai Florian in seiner Gewalt hatte.“
„Mit wäre es am liebsten, wenn ich gar nichts davon wüßte.“
Michael lächelte leicht, so wie er jetzt immer lächelte, wenn die Rede auf etwas Unangenehmes kam, das ihm peinlich war oder das er vor mir verbergen wollte.
„Ingrid, du wirst diese ganze Angelegenheit eines Tages durch deine eigenen Geschichten überlagern, du kannst so was, und dadurch wirst du überleben. Ich kann das nicht.“
„Wie wirst du überleben?“
„Ich werde bis an die Wurzeln dieser Ereignisse zurückgehen müssen.“
Ich habe damals nicht verstanden, was er damit sagen wollte. Aber an seinen Augen, die glänzten wie polierter Granit, und an seiner festen Stimme, die gepreßt durch seine Zähne kam, wußte ich, daß es ihm bitterer Ernst war.
„Was meinst du mit an die Wurzel zurückgehen?“
„Genau das, was ich gesagt habe.“
***
Am nächsten Tag sollte der Psychologe, der Nicolai begutachtet hatte, als Sachverständiger aussagen. Wir wußten von unserem Anwalt, daß er Nicolai für voll schuldfähig hielt. Ich war also nicht sehr beunruhigt, als Christian Schirra mich abends anrief.
„Die Verteidigung hat ein psychologisches Gegengutachten anfertigen lassen, das zu dem Schluß kommt, daß Nicolai nicht schuldfähig ist. Reden Sie sofort mit Frobenius und sagen Sie ihm, daß er unter allen Umständen verhindern muß, daß dieses Gutachten im Prozeß zugelassen wird. Frobenius kann vielleicht noch was tun.“
„Was ist das für
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