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Die in der Hölle sind immer die anderen

Die in der Hölle sind immer die anderen

Titel: Die in der Hölle sind immer die anderen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Walker Jefferson
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psychischen Erkrankung, die dem schizophrenen Formenkreis zuzuordnen ist. Diese Erkrankung ist durch den Verlust des biologischen Vaters in früher Kindheit und die Ablehnung durch den Stiefvater zu erklären. Die schwache Figur der Mutter, die zwischen Stiefvater und Sohn stand, jedoch regelmäßig Partei für ihren Mann ergriff, hat bei dem Angeklagten eine Art Double-Bind-Verhalten ausgelöst, das zwangsläufig in die Schizophrenie führte. Bei einer genauen Analyse des intrafamilialen Kontextes, der durch multiple sexuelle Mißbrauchshandlungen des Vaters am Sohn gekennzeichnet war, erscheint das Tötungsdelikt als nachvollziehbarer Rache- und Befreiungsschlag. Der Verlust der gewohnten sozialen und personalen Ordnung durch die deutsche Wiedervereinigung hat den Angeklagten zusätzlich psychisch weitgehend traumatisiert, so daß er jede verbleibende psychische Steuerungsfähigkeit verlieren mußte. Aus diesem Grund ist der Angeklagte nach § 21 StGB vermindert schuldfähig. Statt in eine Justizvollzugsanstalt verbracht zu werden, sollte er in einem psychiatrischen Krankenhaus intensiv therapiert werden.“
    Frau Dr. Ziegler war eine straffe, grauhaarige Person, die ein naturfarbenes Leinenkleid zu bunten Socken und häßlichen, aber bequemen Schuhen trug. Sie sah so aus, als würde sie sich sehr gesund ernähren und deshalb sehr alt werden. Sie beantwortete die Fragen von Gericht und Staatsanwaltschaft mit einer lauten Altstimme deutlich, ausführlich, theoretisch und meist mehrdeutig. Man merkte, daß sie von sich und ihren Theorien durch und durch überzeugt war. Ihr forensisches Gutachten wurde als Beweismittel zugelassen und stand nun gleichwertig neben demjenigen eines pensionierten Landesmedizinaldirektors aus Aachen, der Nicolai für voll schuldfähig befunden hatte. Dieses zehnseitige Machwerk und sein Verfasser, ein altes, nervöses Männchen mit langen, gefärbten Haaren, der sofort zugab, nicht mehr als eine Stunde mit dem Angeklagten gesprochen zu haben, hatten keine Chance gegen Frau Ziegler und ihr Opus Magnum von mehr als hundert Seiten. Frobenius, dem wir noch an diesem Tag das Mandat entzogen, hatte Hannah Ziegler kampflos und ohne eine Frage zu stellen das Feld überlassen.
    Ich verstehe sehr wohl, daß man bei Sexualverbrechen Psychologen heranzieht. Und ich begreife auch, daß nicht jeder, der einen Menschen getötet hat, gleich abgeurteilt werden kann, weil die individuelle Situation und der Lebenshintergrund eine Rolle spielen. Aber ich werde nie begreifen, wie diese sogenannte Sachverständige ungerührt behaupten konnte, daß der Mord an unserem Kind ein nachvollziehbarer Rache- und Befreiungsschlag gewesen wäre. Ich werde auch nie verstehen, warum die deutsche Wiedervereinigung auf Nicolai eine traumatisierende Wirkung hätte haben sollen, konnte er doch nach dem Untergang der DDR froh sein, in einem zumindest halbwegs freien Staat ohne Schlangen vor den Läden, ohne Bespitzelung und ohne verlogene Funktionärsdiktatur zu leben. Aber nein, irgendeine dahergelaufene Person, die Psychologie studiert hatte und deshalb als Sachverständige auftreten durfte, konnte kommen und eine Menge fadenscheiniger Gründe aufzählen, warum der Mensch, der unser Kind umgebracht hatte, gar nicht anders hätte handeln können - so, als sei es von Geburt an gewissermaßen Florians vorbestimmtes Schicksal gewesen, von Nicolai mißbraucht und getötet zu werden.
***
    Nach zwei weiteren Tagen und der Anhörung von sechs Sachverständigen sollte endlich das Urteil gesprochen werden. Die unangenehmen Ereignisse in meinem Leben fallen immer auf einen Freitag, damit ich dann das ganze Wochenende über Zeit habe, mich damit herumzuquälen. Als ich erfahre, daß der Tag der Abschlußplädoyers und der Urteilsverkündung tatsächlich ein Freitag ist, habe ich von vornherein kein gutes Gefühl. Meine Vorahnung sagt mir, daß alles viel schlimmer kommen wird als ich wir das gedacht habe.
    Aber beginnen wird dieser Tag mit dem Plädoyer des Oberstaatsanwaltes, und dessen Aufgabe ist es, den Beschuldigten anzuklagen, ihm seine Taten nachzuweisen und eine angemessene Strafe dafür zu fordern, daß ein Unmensch unseren Sohn mißbraucht und umgebracht hat. Der Staatswalt ist also auf unserer Seite, soll Florian und uns zu unserem Recht verhelfen. Aber er ist nicht auf unserer Seite, diesen Eindruck habe ich von der ersten Minute an, als er schwitzend, schnaufend und mit zerzausten Haaren zur Tür hereinkommt. Er hat dieses

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