Die innere Freiheit des Alterns
nicht mehr durch diese Tempelanlage, sagte der bestallte Wächter des wilden Geländes, der uns geführt und begleitet hatte: Ein Schlangenpaar lebe hier, das er fürchte.
Nie mehr werde ich diesen magischen Ort im Norden Kambodschas in diesem Leben noch einmal betreten können, dessen bin ich mir sicher. Aber das Wissen um solches Einmalige und Letztmalige macht eine Reiseerfahrung, eine kulturellspirituelle Erfahrung wie die in diesem Tempelgelände so einzigartig, verleiht ihr eine unbeschreibliche Tiefe und tritt in Resonanz mit meinem ganzen Wesen. Zugleich steigt in mir Dank auf, dass dieses Erlebnis sein konnte, diese Reise in eine »Anderswelt«.
Wenn ich jetzt von Fernreisen gesprochen habe, so sind siebeileibe nicht das Einzige, was es als wichtige Ziele im Alter gibt, doch möchte ich noch einmal betonen, dass gerade die Tatsache, solche Reisen im Alter zu unternehmen, ihnen eine besondere psychische Erlebnisqualität verleiht, immer vorausgesetzt natürlich, dass ich mir ein Land und einen Ort ausgesucht habe, der für mich »Seele hat«. Länder und Orte, die für mich keine Seele haben, sollte ich im Alter gar nicht mehr aufsuchen müssen, weil dies vertane Lebenszeit bedeuten kann. Die besondere Erlebnisqualität besteht in dankbar-wehmütigem Empfinden: »Noch nie bisher habe ich das erleben dürfen«, und: »Es war gewiss zum ersten und zum letzten Mal.« Es ist ein abschiedliches Erleben mit aller schmerzlichen Intensität, wie sie so nur Abschiede in sich tragen. Es mag der Refrain in uns widerhallen:
Es sei, wie es wolle,
es war doch so schön.
Ein anderer Aspekt des Reisens im Alter kann darin liegen, dass wir nicht unbekannte, sondern gerade auch vertraute Orte »noch einmal« oder vielleicht »für ein letztes Mal« aufsuchen. Da sind die erinnerungsreichen Reisen an die Orte, aus denen die Familie stammt und in denen viele aus meiner Generation als Kinder noch aufgewachsen sind, vor der Flucht und der Vertreibung, und die sie zugleich schmerzhaft unvergessen für die Betroffenen machen. Es sind die wehmütigen Reisen ins Sudetenland, nach Pommern, in die ehemals deutschen Orte, die heute in Polen, Tschechien und Russland liegen. Es sind die Reisen ins ehemalige Ostpreußen, an die Kurische Nehrung, ins Baltikum. Es ist schmerzlich schön, auf Menschen aus dem dort heimischen, »einheimischen« Volk zu treffen, die um unseren Schmerz und unser Heimweh wissen und es ehren, indem sie uns vielfach ihre Häuser öffnen und bereitwillig und liebevoll alles zeigen, was uns interessiert.
Etliche meiner nahen Freunde und Freundinnen, auch einigemeiner Analysandinnen, konnten auf solche Erinnerungsreisen ins ehemalige Zuhause nicht verzichten, auch wenn sie mit großem finanziellen und emotionalen Aufwand verbunden waren. Am fruchtbarsten aber erschien es mir bei allen denjenigen, die noch einmal dorthin reisten, um schließlich versöhnt Abschied nehmen zu können, jetzt nicht mehr als Vertriebene, sondern als solche, die anderswo Wurzeln geschlagen haben. Es galt nicht zurückzukehren, was manchmal unter den veränderten EU-Bedingungen und den heute offenen Grenzen sogar möglich wäre, sondern es galt, hier wie immer wieder im Alter das Mosaik der Lebensgeschichte zusammenzufügen, eine neue Kachel oder doch Teile von ihr einem annähernd Ganzen einzufügen und anzuschließen, einer sich der Vollständigkeit annähernden Lebensgeschichte.
Um solches Zusammensetzen der Lebensgeschichte geht es selbstverständlich auch bei denen, die solche Reisen zur ehemaligen Heimat aus gesundheitlichen Gründen, Altersgründen oder auch wegen ihrer wirtschaftlichen und sonstigen Lebensbedingungen nicht mehr unternehmen können. Sie lassen sich erzählen von denen, die dort waren, lassen sich Bilder zeigen, fahren oft auf der Landkarte die vertrauten Orte noch einmal nach. Eine Bekannte sagte, sie bekomme Herzklopfen, wenn sie nur die Landkarte von der Kurischen Nehrung sehe.
Wie weit dieses Abschiednehmen gelingt, dies noch einmal Hinfahren, um loslassen zu können, zeigen manchmal die Träume der Betroffenen an, zum Beispiel der Traum einer Frau, die, nahe der Kurischen Nehrung, im heute russischen Gebiet geboren, in lebenslangem Heimweh an dieser durch die Flucht verlassenen Heimat hing: Sie träumt, sie fahre auf einem Schiff an der Küste ihrer Heimat entlang und sehe dort die Dörfer in der Abendsonne liegen. Menschen arbeiteten in ihren Gärten, inmitten von Blumen und Bäumen; sie wässerten die
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