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Die innere Freiheit des Alterns

Die innere Freiheit des Alterns

Titel: Die innere Freiheit des Alterns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Riedel
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das andere, was uns beim Reisen in fremden Regionen begegnet. Ich bin nicht die Einzige, die, jenseits der siebzig, die Kultur Afrikas, aber auch diejenige Südostasiens, die mich schon lange berührt hatte, mit eigenen Augen zu sehen bekam. Meine Freundin hatte schon in ihrer Jugend von den Funden wundersamer Tempel im Dickicht der Urwälder gehört und gelesen (zum Beispiel im Roman Der Königsweg 42 von Malraux), wie sie zuerst von französischen Forschern und Archäologen des letzten Jahrhunderts in Kambodscha entdeckt worden waren. Nun erfuhren wir, dass nach Auflösung der Schreckensherrschaft der Roten Khmer dort viele dieser Tempel wieder zugänglich sein sollten. Wann, wenn nicht jetzt, war ein Besuch dieser Anlagen mit ihren gewaltigen Wasser-Umfriedungen und ihren himmelhohen Kult-Treppen fällig? Anfang siebzig noch gut zu Fuß, wäre es vielleicht Ende siebzig schon gar nicht mehr möglich.
    Kurz entschlossen flogen wir die vielen Stunden bis Bangkok; dort galt es umzusteigen nach Angkor, zu dem den Tempelanlagen von Angkor-Vat am nächsten gelegenen Flughafen. In den Stunden des Wartens auf den Anschlussflug erlebte ich,kurzentschlossen einem Angebot im Flughafen folgend, die außerordentliche Wohltat einer thailändischen Fußmassage. Auch darauf hätte ich früher gar nicht angesprochen, im Alter aber ist hierfür ein Bedürfnis wach – und auch der wachsende Mut, sich einzulassen, sich auszuprobieren. Wann, wenn nicht jetzt?
    Die einzigartigen Anlagen buddhistischer und hinduistischer Tempel zur Angkor-Zeit bewegten uns, verstanden wir doch völlig neu, was ein »Mandala« ist, die Form, nach der sie alle gestaltet sind: ein Weltmodell, mit betontem Zentrum, dem Weltenberg der Mitte, wo die Tempel mit unzähligen Treppen hoch aufsteigen; ein Weltmodell von vielfältigen, quaternären Strukturen, den vier Himmelsrichtungen entsprechend; das ganze Quadrat der Anlage wiederum ist umgeben von einem flussbreiten Wassergraben, zugänglich nur über Brücken, die diesen Bereich als heiligen Bereich aussondern und doch zugänglich machen. Als Modell des Kosmos, des Makrokosmos, ist das Mandala zugleich ein Modell des Mikrokosmos der menschlichen Seele, des menschlichen Standorts in der Welt, ein Meditationsmodell zugleich: ein Modell zentrierter Ganzheit, der Transzendenz in der Immanenz der Welt, der wir uns im Alter annähern.
    Es ist schön, in den späten Jahren unseres Lebens solch ein Modell des Großen Ganzen – das uns aus der Jung’schen Psychologie nicht unvertraut ist 43 – einmal real und lebensecht zu durchwandern, im Rahmen der Kultur, der es entstammt. Schön auch zu sehen, wie diese sehr alten Tempel, Zeugnisse einer ehrwürdigen Kultur und Religion, von innerem Leben erfüllt sind, dadurch, dass sie nicht nur als beeindruckende museale Ruinen, sondern auch als Tempel noch genutzt werden, dadurch, dass bestimmte Räume der Tempel durch rituelle Wandbehänge, frisch entzündetes Räucherwerk und Bildnisse als lebendige, geweihte gottesdienstliche Räume gelten, die man nicht ohne Verneigungen oder ähnliche Gesten der Ehrfurcht und des Gebets betritt.
    Den stärksten Eindruck eines solchen, von der Natur wiedereingeholten Tempels, machte uns ein kaum bekannter und stark verfallener, wieder der Natur zurückgegebener Tempel im Norden des Landes, ein Labyrinth aus Steinen und Tempelteilen, ehemals kostbar ausgestaltet mit Reliefs und Figuren, die man plötzlich unter den Füßen hatte, immer bemüht, nicht darauf zu treten. Erschrocken hob man sie auf und suchte, wo der eigentliche Ort dieser ehrwürdigen Schätze der Kunst und der Religion gelegen sein könnte. Diesen Ort aufzufinden war schwierig, da alles übereinandergetürmt und überdies von gewaltigen Bäumen durchwachsen und aufgesprengt war. Die Natur hatte sich das hinduistische Heiligtum zurückgeholt, hatte es sich wieder einverleibt, das Heiligtum, an dessen einziger erhaltener Wand ein kostbarer hundertarmiger tanzender Shiva auftauchte, der nach Hinduglauben die Vorgänge in aller Welt tanzend und handelnd bewirkt und immerwährend verändert.
    Die summende Stille, die über dem allem lag, war überwältigend. Ohne die Hand des Führers hätte ich in meinem Alter die schwankend übereinanderliegenden Gesteinsplatten, Säulen und Quader nie überqueren können. Wir waren nur zu viert in diesem ehrwürdigen Gelände, über dem die Bäume rauschten und fremdartig große Insekten summten. Alleine und ohne Anlass ginge auch er

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