Die innere Freiheit des Alterns
Pflanzen oder ernteten Früchte von den Bäumen. Einige der Leute würden freundlich zum Schiff herüberwinken. Sie sehe, dass diese Menschen dort ihr Leben hätten, und winke zurück. Gleichzeitig wisse sie, dass sie selbst dort nie mehr lebenwürde und auch nie mehr leben könnte. Andererseits träumt eine heute in Frankfurt Lebende, dass eine Ikone aus dem Osten der Tschechoslowakei über den Main zu ihr herangeschwommen käme, eine Ikone vom Typus der Hodigetria, der Wegbegleiterin.
Solche Heimatorte oder Orte, die uns im Laufe des Lebens zu unserer Heimat geworden sind, die wir noch einmal aufsuchen wollen, müssen natürlich nicht nur solche sein, die durch Krieg, Flucht oder Katastrophen verloren gingen. Es können auch Orte in anderen Ländern, ja auf anderen Kontinenten sein, die einer Wiederbegegnung bedürfen, damit sie voll in die Lebensgeschichte integriert werden können. Eine Freundin, in Bolivien geboren und aufgewachsen, die seit Jahrzehnten in Deutschland lebt, reiste mit ihrer Schwester zum Beispiel einen Monat lang durch dieses Land, nicht anders, als ob sie dort heimisch wäre.
Es geht nicht um Nostalgie bei solchen Reisen im Alter, wenigstens nicht primär, es geht um Integration der verschiedenen Etappen und Erfahrungen in unsere Lebensgeschichte, auch um ein Erwecken der bestimmten Lebenserinnerung – eben um sie in das farbig leuchtende Mosaik dem Ganzen einfügen zu können. Unsere Flüsse seien schön, doch sie würden ihn nicht von seiner Kindheit an kennen – dieser Ausspruch eines heute in Deutschland, am Oberrhein, lebenden Türken bleibt mir immer im Sinn.
Ich selbst musste das Kinderheim im Schwarzwald noch einmal aufsuchen, in dem ich als Neunjährige im Krieg, allein, mit großem Heimweh, evakuiert gewesen war. Was habe ich durch diesen Besuch gewonnen? Das Haus war längst einem anderen Zweck zugeführt, den Weg dorthin habe ich nur mit Mühe wiedergefunden, doch habe ich die großen Tannen, die Wildbäche mit ihren riesigen Steinen, wie ich sie damals im Schwarzwald zum ersten Mal sah und erlebte, innerlich wiedergewonnen. In aller Wehmut, bei allem Heimweh, war es doch eine außerordentliche Naturerfahrung, die mir damals zuteil wurde und die mir nicht verloren ging.
Eine gebürtige Berlinerin, heute in Hessen lebend, suchte alle Plätze ihrer Kindheit und Jugend in Berlin noch einmal auf, die schönsten, die schmerzhaftesten, darunter auch ein Grab – Orte, die ihre Familie, die jüdische Angehörige hatte, damals durchlebt und durchlitten hatte. Danach aßen wir in einem Café einige besondere Berliner Kuchenspezialitäten, trösteten
uns damit, wie Kinder es tun. Wichtig war ihr vor allem gewesen, in mir eine Zeugin zu haben, der sie dies alles hatte zeigen und erzählen können. Diese Erinnerung sei selten so schmerzhaft, aber auch selten so in der Nähe eines Trosts gewesen – so sagte sie – wie bei diesem gemeinsamen Besuch.
Erzählen überhaupt, so betone ich mit Verena Kast 44 , ist der wichtigste heilsame Modus bei einer jeden »Lebensrückblick-Therapie«, die darin besteht, die eigene Lebensgeschichte emotional zu kommunizieren, erzählend so zu einem Ganzen zu machen und als Ganzes ins Jetzt zu heben, sodass man nicht in vergangenen Lebensabschnitten, die vielleicht traumatisiert waren, hängen bleibt.
So wesentlich die Erinnerung auch ist: Es gilt, sie aufzuheben – im Doppelsinn des Mitnehmens und des Geschehenseinlassens. »Prüfet alles, aber das Gute behaltet«, so rät Paulus einmal in einem seiner Briefe, was man auch auf Erinnerungen beziehen kann. Wir müssen auch sein lassen können, loslassen – nicht verdrängen, nicht ungeschehen machen, aber wegstellen können. Darauf beruht die Fähigkeit, in innerer Freiheit mit seiner Lebensgeschichte umzugehen.
Das Heute, das Jetzt ist die eigentliche Zeit des alternden Menschen, in dem er gelassen und unerschrocken auf ein immer mögliches letztes Mal zugehen kann. Das Jetzt ist aber auch die eigentliche Zeit des Menschen in jeder seiner Lebensphasen. Es gilt in allen Gezeiten des Lebens – wie des Meeres auch –, die eben noch erbaute Sandburg fahren zu lassen unter der anrollenden steigenden Flut, um sie bei der zuverlässig wieder einsetzenden Ebbe erneut erbauen zu können, auf reingewaschenem Boden mit frisch befeuchtetem Sand. Eine neue Tür ins Haus kann man nicht einsetzen, ehe die alte ausgehängt ist.Der staunende Ausspruch, es sei ja immer Heute, den eine damalige Studienfreundin in
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