Die innere Freiheit des Alterns
Berliner Altersstudie, dass in der Berliner Population der jüngeren Alten nahezu alle einen Kontaktkreis von bis zu zwölf Personen benannten, mit dem sie näher verbunden waren, der dann im höheren Alter oft auf sechs zusammenschrumpfte, wobei jedoch eine oder zwei Personen, mit denen man in wirklich nahem Kontakt war, genügten, um sich nicht verlassen zu fühlen.
Was in den Siebzigerjahren der jüngeren Alten fast bei allen geschieht, ist ein Sich-Herauslösen aus öffentlichen Dauerverpflichtungen, ein Zurücktreten des Leistungswillens, sodass ein neuer Akzent wieder auf dem einfachen Sein alsMensch unter Menschen liegt, aber auch auf dem Sein als Einzelner, als Individuum. Auch dazu gehört eine stärkere Hinwendung zum Hier und Jetzt, während die Zukunftsbezogenheit einen geringeren Stellenwert bekommt, da die Zukunft auch gelegentlich ängstigt.
Der Raum der Vergangenheit dagegen weitet sich, wird groß und gewichtig; im Erfreulichen, für das man dankbar zu werden beginnt, aber auch im Unerfreulichen, das man trägt und erträgt – und das sich doch an manchen Stellen auch mit Dankbarkeit mischt, weil ich ohne jene schweren Herausforderungen, die ich bestanden habe, nicht die, nicht der geworden wäre, der oder die ich bin – und doch immer wieder auch gerne bin.
Es kommt darauf an, das gelebte Leben zusammenzubringen, es als ein Ganzes zu sehen, mit Licht- und Schattenseiten, und mich so auch als Menschen wahrzunehmen, der so geworden ist, wie ich bin: befruchtet und auch beschnitten vom Schicksal, ein Fragment dessen, was ich sein könnte und doch auch wieder etwas Vollständiges, ein Gesamtentwurf, der mehr ist als die Summe dessen, was ich gelebt habe.
Sehr wichtig werden uns in dieser Lebensspanne, in der es um das Menschsein unter Menschen geht, all diejenigen, die von weither mitgegangen sind, die uns womöglich aus unserer Kindheit her noch kennen, die unsere Eltern, unsere Geschwister, vielleicht sogar den Ort und das Milieu unseres Elternhauses noch erlebt haben. Bedeutsam werden uns die Menschen, die noch wissen, wo bei uns das Klavier, wo Vaters Schreibtisch stand, wo die Essecke war.
In erster Linie sind das die Geschwister. Wie schmerzlich ist es doch, sie zu verlieren, vor allem diejenigen unter ihnen, die jünger waren, als man selbst es ist! Wie rücken deshalb die noch Lebenden zusammen, wie könnten sie zumindest angesichts dieser Lücken in ihren Reihen zusammenrücken! Wie intensivieren sich viele der Beziehungen wieder, die oft unter den widrigen Umständen des Lebens und den weit voneinander entfernten Wohnorten sich auseinanderentwickelt hatten!Wie war es mir auf einmal wichtig, meinen Bruder nach seinem Schlaganfall in dem von meinem Wohnort weit entfernten Leipzig zu besuchen, als er nur noch wenige Monate zu leben hatte – eine Entfernung, die ich in früheren Jahren nur selten glaubte überwinden zu können. Wie wusste ich auf einmal, was er mir bedeutet hatte, mein Spielkamerad, wenig jünger als ich: Wir erinnerten uns in seinen letzten Lebenswochen der gemeinsamen Spielsachen, an die sich nun niemand mehr erinnern kann außer mir selber. Was bedeutete mir wiederum die letzte Kiste Frankenwein, die mir mein jüngster Bruder, schon gezeichnet von seiner letzten Krankheit, noch beschafft und aufbewahrt hatte. Schluck für Schluck kostete ich darin auch den Geschmack unserer Geschwisterbeziehung, in der es so viel Humor und Witz, so viel darunter verborgene Zärtlichkeit gegeben hatte!
Auch zu den Ehepartnerinnen und -partnern unserer Geschwister können wir eine neue Nähe gewinnen, einen vertieften Respekt, wenn wir sehen, mit welcher Intensität sie die Brüder, die Schwestern in den letzten Wochen ihres Lebens begleitet haben – womöglich zu Hause im vertrauten Umfeld, mit allem Mut und Einsatz, den das brauchte –, wie es bei uns geschah. Die Nichten, die Neffen, die Kinder der verstorbenen wie die der noch lebenden Geschwister, sie können uns nun näherkommen als bisher. Es gilt ja, mit der jungen Generation den Kontakt aufzunehmen oder zu halten, die nun, in unseren späteren Jahren, noch um uns ist und es auch noch künftig sein wird. Wir selber sind ihnen noch ein Teil der Elterngeneration, und manchmal suchen sie unsere Nähe.
Auch gilt es, gemeinsame Interessen aufzugreifen, wie zum Beispiel das an dem Haus, in dem mehrere Generationen unserer Familie groß geworden sind, oder an der Familiengeschichte über mehrere Generationen hin, die auf einmal, wie
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