Die innere Freiheit des Alterns
Lebensphasen knapper geworden ist, da das Herausschieben noch geplanter Aktivitäten, Lernerfahrungen, Reisen und Begegnungen leicht beim Sankt-Nimmerleinstag endet, fällt im Alter ein neuer Lebensakzent auf das Jetzt. Eigentlich ist das Jetzt schon immer unsere eigentliche Lebenszeit: die Gegenwart. Viele entdecken sie erst im Alter ganz, als Chance und Glück; jeder Augenblick zählt. Was nicht jetzt geschieht, geschieht vielleicht nie mehr, dieses Wissen nimmt von Jahr zu Jahr zu; und was jetzt geschieht, ereignet sich andererseits vielleicht zum letzten Mal.
So kommt es zu Entschlüssen, zu Entscheidungen, die einen vielleicht sogar selbst, oft aber auch die Nahestehenden überraschen, zum Beispiel mein schon erwähnter Entschluss, noch einmal im Leben die Wildtiere in Afrika erleben zu können. Und so nahm ich, wie gesagt, den internationalen Kongress meiner Berufsgruppe, der seinerzeit in Kapstadt stattfand, zum Anlass, an einer Safari mit Freunden durch das Okavango-Delta teilzunehmen: Das Wissen, dass diese Erfahrung gewiss nie wiederkommen wird, steigerte meine Erlebnisfähigkeit zu hoher Intensität. Das Wunder einer Giraffe zu sehen, deren Kopf über den Waldwipfeln auftaucht wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt, bis sie hervortritt, begleitet von Jungtieren, und in einen majestätischen Galopp verfällt, als sie uns Beobachter ihrerseits in den Blick bekommt. Oder die respektgebietende Elefantenmutter, umgeben von Jungen, zu beobachten, wie sie die Ohren aufstellt, den Rüssel erhebt und unerschrocken trompetend auf unseren offenen Jeep zuschreitet, bis wir ihren Platz verlassen. Die Leopardeneltern, verstecktim Gebüsch, zusammen mit ihrem Wurf aus wenigen Tagen alten Wildkätzchen zu entdecken, von wo sie uns wie mit großen Augen beobachten, als wir langsam vorüberfahren. Das war etwas Neues in meinem Leben, das meine ganze Sicht der lebendigen Wirklichkeit doch um eine Dimension erweitert.
Die eindrucksvoll wachsame Mütterlichkeit der weiblichen Tiere, ihre Entschlossenheit, notfalls für ihre Jungen »wie eine Löwin zu kämpfen« – jetzt verstehe ich diese sprichwörtliche Redensart. Nur die Muttertiere seien wirklich gefährlich, wenn man sie aufstört, so versicherten uns die einheimischen Führer, die mit uns waren. Wie sehr begriff ich auf einmal, dass das Muttertier – zum Beispiel die Löwin – bei allen alten Völkern, wie den Ägyptern, den Rang einer verehrungswürdigen Göttin einnahm –, so Sachmet, die Wilde, die Löwengöttin, zusammen mit Bastet, der Milden, der Katzengöttin. Ja, auch die Könige der Tiere, die Löwen, kamen uns schließlich zu Gesicht, schlafend, übersatt vom Fleisch eines toten Elefanten, der wie ein grauer Berg an ihrer Seite lag, ein urtümliches Bild! Als unsere einheimischen Begleiter schließlich den Motor des Jeeps wieder laut aufheulen ließen, um die ruhenden Löwen absichtlich aus ihrer Lethargie zu reißen, da sprangen die eben noch Schlummernden in plötzlicher Hellwachheit auf ihre vier Beine, musterten uns, wandten sich schließlich ab, um furchtlos und hoheitsvoll langsamen Schritts ihrer Wege zu ziehen.
Dies gesehen zu haben, in den späten Lebensjahren noch, schenkte mir ein neues Gefühl der »Ehrfurcht vor dem Leben« (Albert Schweitzer) und ein starkes Gefühl von Dankbarkeit. Die riesigen schwarzen Büffelherden rund um den See, die ruhig im Abendlicht grasten, während ich in einem schmalen Einbaum-Boot, gelenkt von einem baumlangen Schwarzen, der untergehenden Sonne entgegenfuhr, sie vermittelten mir einen unvergesslichen Eindruck. Es war wie ein Gleichnis des Lebens, das ruhig seinen Gang geht, auch wenn die Sonne sinkt.
Es wandelt, was wir schauen,
Tag sinkt ins Abendrot.
Die Lust hat eignes Grauen
und alles hat den Tod.
Diese Zeilen von Matthias Claudius gingen mir durch den Sinn. Und zugleich hat alles ein unüberwindbares Leben. Mein Einzelleben ist es ja nur, das altert. Große Natur, in der Leben und Sterben benachbart sind, ja zusammengehören, ist das andere, das uns bei den Reisen im afrikanischen Kontinent begegnet, wobei heute, so möchte man hinzufügen, die Sorge um das Überleben solcher Natur hinzukommen mag: Wird das Okavango-Delta, ein Wunder des Energieaustauschs von Wasser, das bei der Regenzeit in die Wüstengebiete ein- und in der Trockenzeit wieder ausfließt, den Klimawandel so überstehen können, dass die einzigartige Flora und Fauna erhalten bleiben?
Große Natur ist das eine, große Kultur
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