Die Insel der besonderen Kinder
mein Arm bereits von dem stattlichen Gewicht des Koffers zu schmerzen begann, erreichten wir eine Kirche. Das musste unsere Unterkunft sein. Doch kurz darauf stellten wir fest, dass das Gebäude tatsächlich umfunktioniert worden war, aber nicht in ein Bed & Breakfast, sondern in ein kleines Museum.
In einem Raum, vollgehängt mit Fischernetzen und Schaffellen, entdeckten wir den Teilzeitkurator. Er strahlte, als er uns sah. Seine Begeisterung verblasste allerdings sofort wieder, als ihm klar wurde, dass wir uns nur verlaufen hatten.
»Ich vermute, Sie suchen das Priest
Hole
«, sagte er. »Das ist nämlich das einzige Haus auf der Insel, wo man Zimmer mieten kann.«
Er beschrieb uns mit trällerndem Akzent den Weg, was mir gut gefiel. Ich hörte die Waliser gern sprechen, wenn ich auch die Hälfte von dem, was sie sagten, nicht verstand. Dad bedankte sich bei dem Mann und wandte sich zum Gehen. Ich zögerte jedoch. Dieser Einheimische hatte sich als so hilfsbereit erwiesen, dass ich entschied, ihn noch etwas zu fragen.
»Wo finden wir das alte Kinderheim?«
»Das alte was?«
Einen schrecklichen Moment lang fürchtete ich, auf der falschen Insel zu sein, oder, schlimmer noch, dass Großvater auch das Kinderheim nur erfunden hatte.
»Es muss ein Heim für Flüchtlingskinder gewesen sein«, sagte ich. »Während des Krieges. Ein großes Haus.«
Der Mann nagte an der Unterlippe und betrachtete mich zweifelnd, als wisse er noch nicht, ob er mir helfen sollte oder lieber nichts damit zu tun haben wollte. Aber dann erbarmte er sich. »Von Flüchtlingen ist mir nichts bekannt«, sagte er. »Aber ich glaube, ich weiß, was du meinst. Es liegt weit oben auf der anderen Seite der Insel, am Moor vorbei hinter dem Wald. An deiner Stelle würde ich mich da aber nicht allein herumtreiben. Wenn du nur einen Schritt zu weit vom Weg abkommst, wird dich nie jemand finden. Zwischen dir und den steilen Klippen sind nur rutschiges Gras und Schafsmist.«
»Gut zu wissen«, sagte Dad und beäugte mich misstrauisch. »Versprich mir, dass du nicht allein da raufgehst.«
»Ist ja schon gut.«
»Warum interessierst du dich überhaupt dafür?«, fragte der Mann. »Im Reiseführer wird es bestimmt nicht erwähnt.«
»Ist nur ein kleines Genealogie-Projekt«, antwortete Dad und stand bereits an der Tür. »Mein Vater hat als Kind ein paar Jahre dort verbracht.« Ich merkte, dass er nicht darauf erpicht war, Psychiater oder tote Großväter zu erwähnen. Er dankte dem Mann nochmals und schob mich rasch zur Tür hinaus.
Wir folgten den Anweisungen des Kurators und gingen zurück, bis wir zu einer finster wirkenden Statue aus schwarzem Stein kamen. Dieses Denkmal mit dem Namen
Wartende Frau
war den auf See verschollenen Inselbewohnern gewidmet. Mit trauriger Miene stand sie da und breitete die Arme aus. Ihr gegenüber auf der anderen Straßenseite befand sich das Priest Hole. Ich bin zwar kein Hotelkenner, aber ein Blick auf das verwitterte Schild verriet mir, dass unser Aufenthalt wohl kaum ein Vier-Sterne-Erlebnis mit Pfefferminz auf dem Kopfkissen werden würde. In riesigen Buchstaben stand dort
Wein, Bier, Spirituosen
und in kleinerer Schrift darunter
Gute Küche.
Handschriftlich war – vermutlich im Nachhinein – hinzugefügt:
Zimmer zu vermieten.
Während wir unser Gepäck zur Tür schleppten, grummelte mein Vater etwas von Betrügern und Anzeigenschwindel. Ich blickte zurück zu der Wartenden Frau und fragte mich, ob sie nicht einfach nur darauf wartete, dass ihr jemand einen Drink brachte.
Mit unserem Gepäck quetschten wir uns durch den Eingang und blieben blinzelnd stehen. Wir befanden uns in einem düsteren Pub mit niedriger Decke. Nachdem sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, wurde mir klar, dass
Hole
– Loch – die passende Beschreibung für diesen Ort war: Winzige Bleiglasfenster ließen gerade genug Licht herein, um den Zapfhahn zu finden, ohne auf dem Weg dorthin Stühle und Tische umzurennen. Die Tische wirkten so alt und wackelig, dass sie als Feuerholz einen besseren Zweck erfüllt hätten. Die Hälfte der Plätze war um diese morgendliche Stunde bereits von Männern besetzt. Sie befanden sich in unterschiedlichen Stadien der Alkoholisierung und hielten die Köpfe andächtig über Krügen gesenkt, die mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt waren.
»Sie kommen sicher wegen der Zimmer«, sagte der Mann hinter der Theke und trat hervor, um uns die Hand zu schütteln. »Ich bin Kev, und
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