Die Insel der besonderen Kinder
die Tentakel eines Außerirdischen. Die Küche sah aus wie nach einem gescheiterten Experiment. Regalweise waren die Einmachgläser durch abwechselndes Gefrieren und Tauen explodiert und hatten die Wände mit ekelerregenden Flecken verunziert. Auf dem Boden des Esszimmers lag eine so dicke Schicht Putz, dass ich im ersten Moment dachte, es hätte geschneit. Am Ende eines Flurs mit abgestandener Luft führte eine morsche Treppe nach oben, und ich probierte aus, ob sie mein Gewicht tragen würde. Meine Gummistiefel hinterließen frische Abdrücke in der zentimeterdicken Staubschicht. Die Stufe knarrte, als würde sie aus einem langen Schlaf erwachen. Falls irgendjemand dort oben war, dann war er es schon seit langer Zeit.
Ich blieb also unten und gelangte schließlich zu ein paar Zimmern, die keine Außenwände mehr hatten. Ein Wald aus Gestrüpp und verkrüppelten Bäumen hatte sich hier breitgemacht. Ich stand in einem sanften Luftzug und fragte mich, was wohl die Ursache für diese Zerstörung gewesen war. Mich beschlich die dunkle Ahnung, dass hier etwas Schreckliches passiert war. Ich konnte die idyllischen Geschichten meines Großvaters nicht mit diesem Alptraumhaus unter einen Hut bringen. Genauso wenig konnte ich mir vorstellen, dass er hier eine Zuflucht gefunden hatte. Es hätte noch viele Räume zu erforschen gegeben, aber plötzlich schien mir das reine Zeitverschwendung zu sein. Hier konnte unmöglich jemand leben, nicht einmal der menschenfeindlichste Einsiedler. Ich verließ das Haus mit dem Gefühl, weiter denn je von der Wahrheit hinter den Geschichten meines Großvaters entfernt zu sein.
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4. Kapitel
I ch rannte so schnell ich konnte, stolperte, suchte mir wie ein Blinder den Weg durch den Wald und den Nebel. Als ich endlich wieder die Welt des Lichts erreichte, war ich erstaunt, dass die rotglühende Sonne bereits am Horizont verschwand. Der Tag war im Nu verflogen. Dad wartete im Pub auf mich, den aufgeklappten Laptop vor sich und ein Bier, das so dunkel war wie die Nacht. Ich setzte mich und trank einen Schluck, bevor er auch nur die Chance hatte, aufzublicken.
»Gütiger Gott«, hustete ich und verschluckte mich an dem Gebräu. »Was ist das? Vergorenes Motoröl?«
»So in etwa.« Dad lachte und nahm mir das Glas weg. »Es ist anders als amerikanisches Bier. Was nicht heißen soll, dass du weißt, wie das schmeckt, stimmt’s?«
»Natürlich nicht.« Ich zwinkerte ihm zu, obwohl ich die Wahrheit sagte. Mein Dad wollte nur zu gern glauben, dass ich so beliebt und abenteuerlustig war wie er in meinem Alter – ein Mythos, der offenbar problemlos aufrechterhalten werden konnte.
Ich ließ ein kurzes Verhör über mich ergehen, wie ich zu dem Haus gefunden und wer mich hingebracht hatte. Und da die leichteste Art des Lügens darin besteht, aus einer wahren Geschichte Details wegzulassen, bestand ich mit Bravour. Ich vergaß geflissentlich zu erwähnen, dass Worm und Dylan mich reingelegt und durch Schafexkremente hatten waten lassen und dann eine halbe Meile vor dem Ziel einfach abgehauen waren. Dad wirkte erfreut, dass ich nun bereits Jungs in meinem Alter kannte. Ich hatte nämlich auch vergessen zu erwähnen, dass die beiden mich nicht ausstehen konnten.
»Und wie war das Haus?«
»Eine Ruine.«
Er zuckte zusammen. »Ist ja auch lange her, dass dein Großvater da gelebt hat.«
»Stimmt. Oder sonst jemand.«
Er klappte den Laptop zu. Das war ein sicheres Zeichen dafür, dass ich in den Genuss seiner ungeteilten Aufmerksamkeit kommen würde.
»Und was hast du jetzt vor?«
»Leute finden, die mir etwas darüber erzählen können. Irgendjemand wird wissen, was aus den Kindern wurde, die damals dort gewohnt haben. Ein paar von ihnen müssen noch am Leben sein, auf dem Festland oder vielleicht sogar hier. In einem Altersheim oder so.«
»Bestimmt. Gute Idee.« Überzeugt klang er jedoch nicht. Es folgte ein unbehagliches Schweigen, und dann sagte er: »Hast du denn das Gefühl, hier ein besseres Bild davon zu bekommen, wer dein Grandpa gewesen ist?«
Ich überlegte. »Keine Ahnung. Vermutlich schon. Auch wenn Grandpa hier gelebt hat: Es ist nur eine Insel.«
Er nickte. »Genau.«
»Und was ist mit dir?«
»Ich?« Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe schon vor langer Zeit aufgegeben, meinen Vater verstehen zu wollen.«
»Das ist traurig. Warst du denn nicht neugierig?«
»Natürlich war ich das. Aber irgendwann hat es sich gelegt.«
Ich spürte, dass sich das Gespräch in
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