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Die Insel der besonderen Kinder

Die Insel der besonderen Kinder

Titel: Die Insel der besonderen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ransom Riggs
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Besorgungen machen, dachte ich. Allerdings wirkte dieser Weg, als hätte seit Monaten, wenn nicht gar seit Jahren niemand mehr seinen Fuß daraufgesetzt.
    Ich kletterte über einen riesigen Baumstumpf, der moosüberwachsen und rutschig war. Danach folgte eine scharfe Wegbiegung. Die Bäume teilten sich wie ein Vorhang, und plötzlich sah ich es – von Nebelschwaden umwabert, ragte es über einem mit Unkraut überwucherten Hügel auf. Das Haus. Jetzt verstand ich, warum sich die Jungs geweigert hatten, herzukommen.
    Mein Großvater hatte es bestimmt hundertmal beschrieben, aber in seinen Geschichten war das Haus stets ein freundlicher Ort gewesen – groß und weitläufig, voller Licht und Lachen. Was jetzt vor mir stand, war keine Zuflucht vor Monstern, sondern selbst ein Monster, das leer und drohend von seinem Hochsitz auf dem Hügel zu mir herabstarrte. Bäume wuchsen aus zerbrochenen Fensterscheiben, und Weinranken nagten an den Wänden wie Antikörper, die sich auf einen Virus stürzen – als hätte die Natur selbst diesem Haus den Kampf angesagt. Aber das Haus schien unzerstörbar zu sein, es stand unerschütterlich aufrecht, trotz der schiefen Angeln und des löchrigen Dachs.
    Ich versuchte mir einzureden, dass dort womöglich noch jemand lebte, so heruntergekommen es auch war. In meiner Heimat gab es solche Fälle. Ein verfallendes Gebäude am Stadtrand zum Beispiel, mit stets zugezogenen Vorhängen, bei dem sich herausstellte, dass es seit Urzeiten das Zuhause irgendeines alten Einsiedlers war, der sich von Wurzeln und Wasser ernährte. Niemandem war es aufgefallen, bis ein Immobilienmakler oder überehrgeiziger Volkszähler hineinstolperte und die arme Seele zu Staub zerfallen in einem Fernsehsessel vorfand. Menschen sind plötzlich zu alt, um ein Haus in Schuss zu halten, und ihre Familien haben sie aus irgendeinem Grund abgeschrieben. Traurig, aber wahr. Ob es mir gefiel oder nicht – ich würde anklopfen müssen.
    Ich sammelte, was ich an kümmerlichem Mut aufzubringen vermochte, und watete durch hüfthohes Unkraut zur Veranda, die nur noch aus morschem Holz bestand. Ich spähte durch eine gesprungene Scheibe. Aber hinter dem verschmierten Glas konnte ich nur die Umrisse von Möbeln erkennen. Also klopfte ich an die Tür und wartete. Mit den Fingern fuhr ich in meiner Tasche über den Rand von Miss Peregrines Brief. Ich hatte ihn mitgenommen, falls ich beweisen musste, wer ich war. Eine Minute verstrich, dann zwei, und es wurde immer unwahrscheinlicher, dass ich ihn brauchen würde.
    Ich stieg die Stufen hinunter in den Garten und ging um das Haus herum, um nach einem anderen Eingang zu suchen. Dabei versuchte ich, die Größe des Gebäudes abzuschätzen, aber das erwies sich als unmöglich. Mit jeder Ecke, um die ich bog, taten sich neue Türmchen, Balkone und Schornsteine auf. Auf der Rückseite angelangt, sah ich meine Chance gekommen: ein von Weinranken umwucherter Eingang, der keine Tür mehr hatte. Ein dunkler, gähnender Schlund, bereit, mich zu schlucken. Allein der Anblick verursachte mir eine Gänsehaut, aber ich war nicht um die halbe Welt gereist, um beim Anblick eines gruseligen Hauses schreiend wegzulaufen. Ich dachte an die furchtbaren Dinge, denen Grandpa Portman in seinem Leben begegnet war, und spürte, wie meine Entschlossenheit wuchs. Wenn dort drinnen jemand war, dann würde ich ihn finden. Ich stieg die rissigen Steinstufen hinauf und trat über die Schwelle.
    * * *
    Drinnen war es so dunkel wie in einer Gruft. Stirnrunzelnd betrachtete ich etwas, was wie an Haken befestigte Häute aussah. Nach einem mulmigen Moment, in dem ich mir vorstellte, wie sich ein mordlüsterner Kannibale mit einem Messer aus dem Schatten auf mich stürzte, erkannte ich, dass es nur Mäntel waren, zu Lumpen zerfallen und mit grünem Schimmel überzogen. Ich schüttelte mich und holte tief Luft. Jetzt hatte ich gerade mal drei Meter in dem Haus erforscht und war schon kurz davor, mir in die Hose zu machen.
Reiß dich zusammen,
ermahnte ich mich und ging langsam weiter, während mir das Herz in der Brust hämmerte.
    Jedes Zimmer war in einem schlimmeren Zustand als das vorherige. Auf dem Boden lagen halb vermoderte Spielsachen, ein Hinweis auf die Kinder, die schon lange nicht mehr hier lebten. Kriechender Schimmel hatte die Wände neben den Fenstern schwarz und pelzig überzogen. Kaminöffnungen erstickten unter Weinranken, die vom Dach heruntergekrochen waren und sich über den Boden ausbreiteten wie

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