Die Insel der besonderen Kinder
eine Richtung entwickelte, die mir unangenehm war, trotzdem bohrte ich weiter. »Und warum?«
»Wenn dich jemand nicht hineinlässt, dann hörst du irgendwann auf, an die Tür zu klopfen. Du verstehst, was ich meine?«
So redete er sonst nie. Vielleicht lag es an dem Bier, oder daran, dass wir so weit von zu Hause entfernt waren. Vielleicht hatte er aber auch entschieden, dass ich jetzt alt genug sei, um mir dieses Zeug anzuhören. Was auch immer der Grund war, ich wollte jedenfalls nicht, dass er aufhörte.
»Aber er war dein Vater. Wie konntest du einfach aufgeben?«
»Nicht ich habe aufgegeben!«, entgegnete er ein bisschen zu laut. Dann senkte er den Blick und schwenkte verlegen das Bier in seinem Glas. »Es ist nur so, dass – die Wahrheit ist, ich glaube, dein Grandpa wusste nicht, wie man ein Dad ist. Aber er meinte, trotzdem einer sein zu müssen, weil keiner seiner Brüder oder Schwestern den Krieg überlebt hatte. Doch dann war er nie da – sondern auf Jagdausflügen, Geschäftsreisen, was auch immer. Und selbst wenn er da war, dann nicht wirklich.«
»Meinst du dieses eine Halloween?«
»Wovon redest du?«
»Du weißt schon – das Foto.«
Die Geschichte ging in etwa so: Es war Halloween. Mein Dad war vier oder fünf Jahre alt und noch nie mit dem Spruch »Süßes oder Saures!« von Tür zu Tür gezogen. Grandpa Portman hatte versprochen, ihn zu begleiten, sobald er von der Arbeit nach Hause kommen würde. Meine Großmutter hatte Dad ein albernes rosa Hasenkostüm gekauft. Er zog es an und setzte sich neben die Einfahrt, um auf seinen Vater zu warten. Dort saß er von fünf Uhr nachmittags bis zur Schlafenszeit. Aber Großvater kam nicht. Großmutter war so wütend, dass sie ein Foto davon machte, wie Dad weinend auf dem Rasen saß, damit sie meinem Großvater zeigen konnte, was für ein riesiges Arschloch er war. Überflüssig zu erwähnen, dass dieses Foto in der Familie zur Legende und zur großen Peinlichkeit für meinen Vater wurde.
»Es war nicht nur dieses eine Halloween«, grummelte er. »Ehrlich, Jake, du warst ihm näher als ich. Keine Ahnung – zwischen ihm und mir stand immer etwas Unausgesprochenes.«
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. War er etwa eifersüchtig auf mich?
»Warum erzählst du mir das?«
»Weil du mein Sohn bist und ich nicht möchte, dass dir weh getan wird.«
»Wodurch?«
Er schwieg. Draußen zogen die Wolken vorbei. Die letzten Sonnenstrahlen warfen unsere Schatten an die Wand. Ich hatte plötzlich ein mulmiges Gefühl im Bauch, als würden meine Eltern mir im nächsten Moment mitteilen, dass sie sich scheiden lassen. Und als wüsste ich es, noch bevor sie den Mund aufmachten.
»Ich habe bei deinem Großvater nie tief gebohrt, weil ich zu viel Angst vor dem hatte, was ich finden würde«, sagte er schließlich.
»Du meinst über den Krieg?«
»Nein. Diese Geheimnisse hat dein Großvater für sich behalten, weil sie schmerzhaft waren. Das konnte ich verstehen. Ich meine wegen dieser ständigen Reisen. Was er in Wahrheit machte. Ich glaube – deine Tante und ich dachten es beide –, dass es eine andere Frau gab. Vielleicht sogar mehr als eine.«
Ich ließ seine Worte einen Moment lang im Raum stehen. Mein Gesicht kribbelte merkwürdig. »Das ist verrückt, Dad.«
»Einmal haben wir einen Brief gefunden. Er war von einer Frau, deren Namen wir nicht kannten, adressiert an deinen Großvater. ›Ich liebe dich, ich vermisse dich, wann kommst du zurück‹, solches Zeug. Schäbiges ›Lippenstift am Kragen‹-Zeug. Ich werde es nie vergessen.«
Ich spürte ein stechendes Gefühl der Scham, als wäre es
mein
Vergehen, das er beschrieb. Und trotzdem mochte ich es nicht glauben.
»Wir haben den Brief zerrissen und in der Toilette fortgespült. Wir haben nie wieder einen gefunden. Vermutlich war er danach vorsichtiger.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und mied Dads Blick.
»Tut mir leid, Jake. Das muss hart für dich sein. Ich weiß, wie sehr du ihn verehrt hast.« Dad drückte meine Schulter, aber ich schüttelte seine Hand ab. Dann schob ich den Stuhl zurück und stand auf.
»Ich
verehre
niemanden.«
»Okay. Ich wollte nur nicht … dass du eine unangenehme Überraschung erlebst, das ist alles.«
Ich griff nach meiner Jacke und hängte sie mir über die Schulter.
»Was hast du vor? Es gibt gleich Abendessen«, sagte Dad erstaunt.
»Du hast ein falsches Bild von ihm«, antwortete ich. »Und das werde ich dir
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