Die Insel der besonderen Kinder
wünsche dir noch viel Spaß. Forsche ein bisschen und mach dir nicht zu viele Sorgen. Wir sehen uns bald wieder, okay?«
»Danke noch mal, Dr. G.«
Während ich auflegte, überkam mich ein schlechtes Gewissen, weil ich so über ihn hergezogen war. Es war das zweite Mal, dass er sich für mich einsetzte, als meine eigenen Eltern mich nicht unterstützten.
Dad trank immer noch bedächtig sein Bier. Auf dem Weg nach oben blieb ich an seinem Tisch stehen. »Wegen morgen …«, begann ich.
»Tu, was du willst.«
»Ehrlich?«
Er zuckte mürrisch mit den Schultern. »Anweisung des Arztes.«
»Zum Abendessen bin ich wieder zurück. Versprochen.«
Er nickte nur. Ich ließ ihn unten zurück und ging ins Bett.
Beim Einschlafen wanderten meine Gedanken zu den besonderen Kindern und ihrer ersten Frage, nachdem Miss Peregrine mich vorgestellt hatte:
Bleibt Jacob bei uns?
Natürlich nicht, hatte ich in dem Moment gedacht. Aber warum eigentlich nicht? Wenn ich nie wieder nach Hause fuhr – was würde ich denn vermissen? Ich dachte an mein kaltes, riesiges Elternhaus, die Stadt voller unguter Erinnerungen, in der ich keine Freunde hatte, das zutiefst gewöhnliche Leben, das für mich geplant war. Mir wurde plötzlich klar, dass es mir bisher nie in den Sinn gekommen war, über Alternativen nachzudenken.
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7. Kapitel
D er nächste Morgen brachte Regen, Wind und Nebel – deprimierendes Wetter, bei dem es schwerfiel, zu glauben, dass der vorangegangene Tag etwas anderes gewesen war als ein sonderbarer, schöner Traum. Ich verschlang mein Frühstück und sagte Dad Bescheid, dass ich nun losziehen würde. Er sah mich an, als wäre ich verrückt geworden.
»Bei
dem
Wetter? Um was zu tun?«
»Um ein bisschen herumzuhängen mit …«, begann ich, ohne nachzudenken. Um ihn abzulenken, tat ich so, als hätte ich mich verschluckt. Aber es war zu spät. Er hatte gehört, was ich gesagt hatte.
»Mit wem herumzuhängen? Doch nicht etwa mit diesen Rappern?«
Der einzige Weg aus dieser Grube bestand darin, sich noch tiefer einzugraben. »Nein, du kennst sie nicht. Sie leben auf der anderen Seite der Insel, und, ähm …«
»Tatsächlich? Ich dachte, da lebt niemand.«
»Na ja, nur ganz wenige Leute. Schafzüchter und so. Jedenfalls sind sie cool – sie passen auf mich auf, während ich in dem alten Haus bin.« Freunde und Sicherheit: zwei Dinge, gegen die Dad unmöglich etwas haben konnte.
»Ich möchte sie kennenlernen«, sagte er und bemühte sich, streng auszusehen. Diesen Gesichtsausdruck kannte ich gut. Dad spielte den vernünftigen, nicht zu Späßen aufgelegten Vater, der er vermutlich gern gewesen wäre.
»Klar. Aber heute treffen wir uns drüben, also lieber ein anderes Mal.«
Er nickte und nahm noch einen Bissen von seinem Frühstück.
»Sei zum Abendessen zurück«, sagte er.
»Roger Wilco«, versicherte ich, was so viel heißt wie: Ich habe die Anweisungen verstanden und werde sie befolgen.
Ich rannte zum Moor. Während ich mich über den tückischen Boden vorantastete und mich daran zu erinnern versuchte, wo Emma hingetreten war, hatte ich Angst, auf der anderen Seite des Steingrabs auch nur Regen und eine Ruine vorzufinden. Daher war ich, als ich aus dem Grab hinaustrat, erleichtert festzustellen, dass es der 3 . September war, genau so, wie ich ihn verlassen hatte: warm, sonnig, ohne Nebel, der Himmel von einem verlässlichen Blau und Wolken, deren Formen mir beruhigend vertraut vorkamen. Und das Beste war: Emma wartete auf mich. Sie saß am Rand des Erdwalls und warf Steine ins Moor. »Höchste Zeit!«, rief sie und sprang auf die Füße. »Komm schon, alle warten auf dich.«
»Ehrlich?«
»Ja«, sagte sie und verdrehte ungeduldig die Augen. Dann nahm sie meine Hand und zog mich hinter sich her. Ich war vor Aufregung ganz kribbelig – nicht nur wegen ihrer Berührung, sondern bei dem Gedanken an den Tag, der vor mir lag. Zwar würde er in jeder Weise genauso banal verlaufen wie der vorherige Tag – derselbe Wind würde wehen, und dieselben Äste würden sich biegen –, mein Erleben dieses Tages wäre jedoch neu. So wie für die besonderen Kinder. Sie waren die Götter in diesem seltsamen kleinen Universum, und ich war ihr Gast.
Wir rannten durchs Moor und den Wald, als kämen wir sonst zu spät zu einer Verabredung. Als wir das Haus erreicht hatten, führte Emma mich um das Gebäude herum in den Garten, wo eine kleine Holzbühne errichtet worden war. Die Kinder eilten hin und her,
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