Die Insel der besonderen Kinder
nahm meine Hand. »Es wird dir gefallen, ich verspreche es. Und wenn wir dort sind, werde ich dir alles erzählen.«
Ich war ziemlich sicher, dass sie darauf aus war, mit mir zu knutschen. Und wenn ich älter oder klüger gewesen wäre, hätte ich vielleicht die emotionale und hormonelle Stärke besessen, zu verlangen, dass wir hier und jetzt redeten. Aber ich war so nicht. Davon abgesehen strahlte Emma mich an, lächelte mit ihrem ganzen Wesen und brachte mich dazu, ihr zu folgen und ihr zu helfen, gleichgültig, was sie verlangte. Ich gab mich geschlagen.
Ich werde mitgehen, aber ich werde sie nicht küssen, sagte ich mir. Diesen Satz wiederholte ich wie ein Mantra, während ich ihr durchs Moor folgte. Nicht küssen! Nicht küssen! Wir gingen erst in Richtung Dorf und bogen dann ab zu der felsigen Küste gegenüber dem Leuchtturm. Über einen steilen Pfad stiegen wir hinunter zum Sandstrand.
Als wir das Ufer erreicht hatten, sagte sie, ich solle warten. Dann lief sie fort, um etwas zu holen. Ich betrachtete den kreisenden Scheinwerfer des Leuchtturms, der über alles hinwegstrich – eine Million Seevögel, die in den zerklüfteten Klippen schliefen, riesige Felsbrocken, die von der Ebbe freigelegt worden waren, ein verrottetes Ruderboot im Sand. Als Emma zurückkam, hatte sie ihren Badeanzug angezogen und hielt zwei Tauchermasken in der Hand.
»Oh, nein«, sagte ich. »Auf keinen Fall.«
»Bis auf die Unterwäsche musst du alles ausziehen«, sagte sie und betrachtete skeptisch meine Jeans und das T-Shirt. »Zum Schwimmen sind deine Klamotten völlig ungeeignet.«
»Das liegt daran, dass ich nicht schwimmen
werde!
Ich war einverstanden, mich davonzuschleichen und dich mitten in der Nacht zu treffen. Fein. Um zu reden, aber nicht, um zu –«
»Wir
werden
reden«, beharrte sie.
»Unter Wasser. Während ich nur eine Unterhose anhabe.«
Sie schleuderte mit dem Fuß Sand nach mir. »Ich werde nicht über dich herfallen, falls du dir deshalb ins Hemd machst. Bilde dir ja nichts ein.«
»Tue ich nicht.«
»Dann hör auf mit dem Theater und zieh diese blöde Hose aus!« Plötzlich stürzte sie sich auf mich, rang mich zu Boden und kämpfte darum, meinen Gürtel mit einer Hand zu öffnen, während sie mir mit der anderen Hand Sand ins Gesicht rieb.
»Bah!«, schrie ich und spuckte. »Du kämpfst mit unfairen Mitteln!« Mir blieb nichts anderes übrig, als es ihr mit gleicher Münze heimzuzahlen, und im Nu befanden wir uns inmitten eines schonungslosen Sandkampfes. Als er vorbei war, waren wir beide atemlos vor Lachen und versuchten ohne Erfolg, uns den Sand aus den Haaren zu schütteln.
»Jetzt brauchst du ein Bad, also kannst du genauso gut in dieses verdammte Wasser steigen.«
»Dann hast du es ja geschafft.«
Im ersten Moment war das Wasser furchtbar kalt, aber ich gewöhnte mich rasch an die Temperatur. Wir wateten an den Felsen entlang zu einem Boot, das an einer Tiefenmarkierung befestigt war. Nachdem wir hineingeklettert waren, reichte Emma mir ein Paddel. Dann ruderten wir auf den Leuchtturm zu. Die Nacht war warm und die See ruhig. Ein paar Minuten lang verlor ich mich in dem angenehmen Rhythmus der ins Wasser klatschenden Paddel. Knapp hundert Meter vom Leuchtturm entfernt hielt Emma an und stieg aus dem Boot. Zu meiner Überraschung verschwand sie jedoch nicht in den Wellen, sondern stand nur bis zu den Knien im Wasser.
»Stehst du auf einer Sandbank?«, fragte ich.
»Nein.« Sie langte ins Boot, zog einen kleinen Anker heraus und ließ ihn fallen. Er sank etwa einen Meter tief und schlug mit einem metallischen Geräusch auf. Nur einen Augenblick später glitt der Scheinwerfer des Leuchtturms über uns, und ich sah, dass sich zu allen Seiten der Rumpf eines Schiffes erstreckte.
»Ein Schiffswrack!«
»Komm schon«, sagte sie. »Wir sind fast da. Und nimm deine Taucherbrille mit.« Sie ging auf dem Rumpf des Schiffes entlang.
Vorsichtig stieg ich aus und folgte ihr. Vom Strand aus musste es aussehen, als gingen wir übers Wasser.
»Wie groß ist dieses Teil?«, fragte ich.
»Riesig. Es ist ein Kriegsschiff der Alliierten. Ist mit einer dieser netten Minen kollidiert und hier gesunken.«
Sie blieb stehen. »Sieh einen Moment lang vom Leuchtturm fort«, sagte sie. »Damit sich deine Augen an die Dunkelheit gewöhnen.«
Wir verharrten für eine Weile mit dem Gesicht zum Strand, während kleine Wellen gegen unsere Schenkel plätscherten. »Also gut. Und jetzt holst du tief Luft und kommst
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