Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Insel der besonderen Kinder

Die Insel der besonderen Kinder

Titel: Die Insel der besonderen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ransom Riggs
Vom Netzwerk:
mir nach.« Emma ging zu einem dunklen Loch im Schiffskörper – offenbar eine Tür –, setzte sich an den Rand und ließ sich hineingleiten.
    Das ist verrückt, dachte ich. Und dann setzte ich die Taucherbrille auf und folgte ihr. Ich spähte in die Dunkelheit zwischen meinen Füßen und sah, dass sich Emma an den Sprossen einer Leiter immer tiefer nach unten zog. Ich packte die oberste Sprosse und folgte ihr, eine Stufe nach der anderen, bis ich auf einem Metallboden zum Stehen kam, wo Emma auf mich wartete. Wir schienen in einer Art Frachtraum zu sein, obwohl es zu dunkel war, als dass ich etwas Genaues erkennen konnte.
    Ich tippte an Emmas Ellbogen und zeigte dann auf meinen Mund. Ich musste atmen. Sie tätschelte beruhigend meinen Arm und langte nach einem Plastikschlauch, der ganz in der Nähe hing. Er war mit einem Rohr verbunden, das längs der Leiter nach oben lief. Sie nahm den Schlauch in den Mund und pustete das Wasser nach oben hinaus, blähte dabei vor Anstrengung die Wangen. Dann nahm sie einen Atemzug und reichte mir den Schlauch. Ich sog den willkommenen Sauerstoff in meine Lungen. Wir waren sechs Meter unter Wasser, in einem alten Schiffswrack – und wir atmeten.
    Emma deutete auf die Tür vor uns, kaum mehr als ein schwarzes Loch in der Dunkelheit. Ich schüttelte den Kopf. Aber sie nahm meine Hand, als wäre ich ein ängstliches Kleinkind, und führte mich. Den Schlauch zog sie mit.
    Wir glitten durch die Tür in die totale Finsternis. Eine Weile lang schwebten wir dort einfach, atmeten abwechselnd durch den Schlauch. Es gab kein Geräusch außer unseren Luftblasen, die nach oben stiegen, und sonderbare, dumpfe Schläge tief aus dem Innern des Schiffes, vermutlich abgebrochene Teile des Rumpfes, die von der Strömung bewegt wurden. Es hätte nicht dunkler sein können, wenn ich die Augen geschlossen hätte. Wir waren wie Astronauten, die durch ein sternenloses Weltall schwebten.
    Aber dann passierte etwas Rätselhaftes, Wunderschönes. Einer nach dem anderen tauchten die Lichter auf, hier und da ein grünes Leuchten in der Dunkelheit. Ich glaubte, Halluzinationen zu haben. Aber immer mehr leuchteten auf, wie eine Million funkelnder Sterne, bis um uns herum ein komplettes Sternbild entstanden war, das unsere Körper in Licht hüllte, sich in unseren Taucherbrillen spiegelte. Emma schlenkerte mit ihrer Hand. Aber statt einer Flamme glühte ein schillerndes Blau über ihren Fingern. Die grünen Sterne gruppierten sich als Kreis um dieses Licht. Glitzernd und geschmeidig ahmten sie Emmas Bewegungen nach.
    Fasziniert verlor ich jegliches Zeitgefühl. Es kam mir vor, als wären wir schon seit Stunden dort unten, dabei konnten es nur Minuten gewesen sein. Dann spürte ich, wie Emma mich anstupste. Wir zogen uns in Richtung Luke und dann über die Treppe zurück nach oben. Als wir die Oberfläche erreichten, war das Erste, was ich sah, der breite Streifen der Milchstraße, quer über den Himmel gemalt. Mir kam in den Sinn, dass die Fische und die Sterne zusammen ein komplettes System bildeten, deckungsgleiche Teile eines geheimnisvollen uralten Ganzen.
    Wir zogen uns auf den Rumpf und setzten die Taucherbrillen ab. Einen Moment lang saßen wir einfach nur da, mit den Beinen im Wasser, die Schenkel aneinander und stumm.
    »Was war das?«, fragte ich schließlich.
    »Wir nennen sie Leuchtfische.«
    »So etwas habe ich noch nie gesehen.«
    »Die meisten Menschen bekommen sie nie zu Gesicht«, sagte sie. »Leuchtfische verstecken sich.«
    »Sie sind wunderschön.«
    Emma lächelte. »Das sind sie.« Und dann legte sie behutsam die Hand auf mein Knie. Ich ließ es zu, weil es sich warm und gut anfühlte in dem kalten Wasser. Ich wartete auf die Stimme in meinem Kopf, die mir sagte, dass ich sie nicht küssen sollte, aber die Stimme war verstummt.
    Und dann küssten wir uns. Die tiefe Empfindung, als sich unsere Lippen und unsere Zungen berührten und als meine Hand an Emmas perfekter weißer Wange lag, schloss jegliche Überlegung über Falsch oder Richtig aus – und auch die Erinnerung daran, warum ich ihr eigentlich hierhergefolgt war. Wir küssten uns immer wieder, bis es plötzlich vorbei war. Sie legte die Hand auf meine Brust, zart, aber fest. »Ich muss mal Luft holen, du verrückter Kerl.«
    Ich lachte. »Okay.«
    Emma nahm meine Hände und sah mich an. Dieser Blick war beinahe noch intensiver als das Küssen. Und dann sagte sie: »Du solltest bleiben.«
    »Bleiben«, wiederholte ich.
    »Hier.

Weitere Kostenlose Bücher