Die Insel der besonderen Kinder
Er sagte, er könne nicht damit leben, dass er den Krieg einfach aussitzt, während seine Leute gejagt und getötet werden. Er sagte, es sei seine Pflicht. Offenbar war diese Pflicht für ihn wichtiger als ich. Jedenfalls habe ich gewartet. Ich wartete und hatte Angst, diesen ganzen verdammten Krieg über, dachte bei jedem Brief, der hier ankam, es wäre die Nachricht von seinem Tod. Als der Krieg dann vorbei war, schrieb er, dass er vielleicht nicht zurückkommen könne, behauptete, hier würde er durchdrehen. Sagte, er hätte in der Armee gelernt, sich selbst zu verteidigen, und brauche kein Kindermädchen mehr wie den Vogel, der auf ihn aufpasste. Er wollte nach Amerika, um dort eine Existenz für uns aufzubauen und mich dann nachzuholen. Also wartete ich weiter. Ich wartete so lange, dass ich bereits vierzig Jahre alt gewesen wäre, wenn er mich damals geholt hätte. Aber dann hat er sich in eine Frau verliebt. Und das war’s, wie man so schön sagt.«
»Das tut mir leid. Ich hatte davon keine Ahnung.«
»Es ist eine alte Geschichte. Ich denke nicht mehr oft darüber nach.«
»Du gibst ihm die Schuld daran, dass du hier festsitzt«, stellte ich fest.
Sie blitzte mich wütend an. »Wer sagt, dass ich festsitze?« Dann seufzte sie. »Nein, ich werfe ihm nichts vor. Ich vermisse ihn einfach.«
»Immer noch?«
»Jeden Tag.«
Sie war fertig mit dem Sortieren der Briefe. »Jetzt weißt du es«, sagte sie und klappte den Deckel zu. »Die ganze Geschichte meiner Liebe steckt in einer staubigen Schachtel.« Sie holte tief Luft, schloss die Augen und kniff sich in den Nasenrücken. Einen Moment lang konnte ich beinahe die alte Frau erkennen, die sich hinter den weichen Gesichtszügen verbarg. Mein Großvater hatte auf ihrem schmachtenden Herzen herumgetrampelt, und die Wunde war nach all diesen Jahren immer noch nicht verheilt.
Ich zog in Erwägung, sie in den Arm zu nehmen, aber irgendetwas hielt mich davon ab. Ich stand einem hübschen, humorvollen, faszinierenden Mädchen gegenüber, das mich, Wunder aller Wunder, zu
mögen
schien. Aber jetzt hatte ich verstanden, dass sie gar nicht mich meinte. Sie war todunglücklich wegen meinem Großvater, und ich war lediglich der Lückenbüßer. Das genügte, um gehörig Abstand zu halten. Ich kenne Typen, die widert schon die Vorstellung an, mit der Ex eines Freundes auszugehen. Daran gemessen käme ein Treffen mit der Ex des Großvaters einem Inzest gleich.
Plötzlich spürte ich Emmas Hand auf meinem Arm. Und dann ihren Kopf auf meiner Schulter. Und wie sich ihre Wange langsam meinem Gesicht zuwandte. Deutlicher konnte ihr Körper nicht »Küss mich« sagen. Jeden Moment würden sich unsere Lippen berühren, und dann musste ich mich entscheiden, sie geschlossen zu halten, oder Emma noch heftiger zu kränken, indem ich mich entzog – und ich hatte sie bereits einmal gekränkt. Es war ja nicht so, dass ich es nicht
wollte
– ich wollte es sogar mehr als alles andere. Aber die Vorstellung, sie einen halben Meter neben den wie besessen gehüteten Liebesbriefen meines Großvaters zu küssen, machte mich mehr als nur ein bisschen nervös.
Und dann war ihre Wange an meiner, und ich wusste, jetzt oder nie, deshalb setzte ich den erstbesten Stimmungskiller ein, der mir in den Sinn kam.
»Läuft da was zwischen dir und Enoch?«
Sie löste sich abrupt von mir und sah mich an, als hätte ich ihr vorgeschlagen, zum Abendbrot kleine Hunde zu verspeisen. »Was? Nein! Wie in aller Welt kommst du auf diese absurde Idee?«
»Wenn er über dich redet, klingt er verbittert, und ich hatte den Eindruck, dass er mich nicht hierhaben will, weil ich ihm dann in die Quere kommen könnte.«
Ihre Augen wurden immer größer. »Es gibt nichts, wobei du ihm in die Quere kommen könntest, das versichere ich dir. Er ist ein eifersüchtiger Idiot und Lügner.«
Sie verengte die Augen. »Wieso? Was hat er denn erzählt?«
»Emma, was ist mit Victor passiert?«
Sie wirkte entsetzt. Dann schüttelte sie den Kopf und murmelte: »Zum Teufel mit diesem selbstsüchtigen Knaben.«
»Es gibt etwas, das mir keiner von euch verrät, aber ich will es wissen.«
»Ich kann nicht«, sagte sie.
»Das bekomme ich die ganze Zeit zu hören! Ich darf nicht über die Zukunft reden. Du darfst nicht über die Vergangenheit reden. Miss Peregrine hat uns allen den Mund verboten. Es war der letzte Wunsch meines Großvaters, dass ich herkomme und die Wahrheit herausfinde. Bedeutet das denn gar nichts?«
Emma
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